14. Das Beispiel Roth (Krs. Marburg-Biedenkopf): Sozialer und wirtschaftlicher Strukturwandel im ländlichen Raum im 19. Jh.
Originalbeitrag von Annegret Wenz-Haubfleisch
Die Entwicklung bis zum ausgehenden 18. Jahrhundert
Das Dorf Roth bildete zusammen mit Argenstein und Wenkbach das sogenannte Schenkisch Eigen, ein Gericht, das den Schencken zu Schweinsberg unterstand. Bereits 1332 hatten diese von Kaiser Ludwig d. Bayern das Privileg erlangt, in ihrer Stadt Schweinsberg vier Juden ansiedeln zu dürfen (HSTAM Urk. 134 Nr. 4). Wie andere landsässige Adelsfamilien erlaubten sie Juden spätestens in der Frühen Neuzeit die Niederlassung auch in ihren Dörfern. In einem Türkensteuerregister von 1594/95 lassen sich im „Eigen“ erstmals sieben Juden nachweisen, die zusammen 200 Gulden versteuerten (HSTAM 74 Nr. 47).
Mitte des 18. Jahrhunderts lebten in Roth, das damals etwa 350 Einwohner zählte, rund 38 Juden in neun Familien, was einem Bevölkerungsanteil von rund 10 Prozent entsprach. Im Raum Marburg folgte Roth unmittelbar auf Schweinsberg, wo ungefähr 44 Juden lebten. Im Verhältnis zu seiner Einwohnerzahl besaß das kleine Dorf an der Lahn zu dieser Zeit sicher mit Abstand die größte jüdische Gemeinde. Bekannt sind diese Zahlen aus der sogenannten Judenstättigkeit von 1744, einer die gesamte Landgrafschaft – mit Ausnahme der ehemaligen Grafschaft Hanau – betreffenden landesherrlichen Erhebung, die zugleich Bestimmungen darüber traf, welche Juden im Lande bleiben und welche dieses verlassen mussten. Die Erhebung zielte darauf, die weniger wohlhabenden Juden zu identifizieren und rigoros des Landes zu verweisen. Im Falle Roths durften nur zwei jüdische Familien am Ort verbleiben (siehe Dok. 1) Vor der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist wenig über die Lebensumstände der Rother Juden bekannt. Genauere Aufschlüsse liefert die aus steuerlichen Gründen erfolgte Katasteraufnahme von 1773, der die Vermessung der Gemarkung und Anlage einer Katasterkarte 1766/69 vorausging (Dok. 3.0 und zwei Ausschnitte). Ausweislich dieser Quellen lebten in Roth zwei jüdische Familien mit Hausbesitz und zwei Bettelweiber. Die beabsichtigte Ausweisung der Juden war also tatsächlich durchgeführt worden. Die Häuser sind identifizierbar, sie lagen nebeneinander, wobei an eines eine Synagoge angebaut war. Weitere Immobilien besaßen diese Juden nicht; gemäß den Judenordnungen von 1739 und 1749 (siehe Raum 10, Dok. 4 und 5) war es ihnen ja auch verboten, „Feldgüter“ zu kaufen.
Das 19. Jahrhundert
Demographische Entwicklung
Unter napoleonischer Herrschaft (1807-1813) erlangten Juden die bürgerliche Gleichstellung, die auch die Freizügigkeit in der Wahl des Wohnortes beinhaltete (siehe Raum 11, Dok. 2, Art. 5). Das Aufenthaltsrecht wurde also nicht mehr durch einen landesherrlichen Schutzbrief oder Toleranzschein erworben und reglementiert. Für die Rekonstruktion der demographischen und sozialen Entwicklung ist Art. 15 der Verordnung zur Einrichtung eines Konsistoriums von 1808 wichtig, schrieb dieser den Juden doch vor, feste Nachnamen anzunehmen (siehe Raum 11, Dok. 4). Die Gewohnheit, als Nachnamen den jeweiligen Vatersnamen dem Vornamen hinzuzusetzen, mussten sie folglich aufgeben. Dadurch entstanden in der jüdischen Bevölkerung erstmals feste Familiennamen.
Von dem erwähnten Recht, den Wohnort frei wählen zu dürfen, machten Juden in Roth in napoleonischer Zeit mehrfach Gebrauch, ließen sich nieder und heirateten in die bestehenden beiden Familien ein. Nach dem Ende des Königreichs Westphalen, als der kurhessische Staat die bürgerliche Gleichstellung der Juden wieder einschränkte, erneut kontrollierend und reglementierend in die jüdischen Angelegenheiten eingriff und hierzu Übersichten der jüdischen Einwohner anlegen ließ, können wir jedenfalls vier jüdische Ehepaare mit Kindern in Roth nachweisen (Dok. 2.0). Geburts-, Heirats- und Sterberegister, die die jüdischen Gemeinden zwischen 1824 und 1874 zu führen hatten und für Roth vollständig erhalten sind, lassen die demographische Entwicklung nachvollziehen, die ausgesprochen dynamisch war. 1864 zählte die jüdische Gemeinde Roth 55 Mitglieder bei einer geschätzten Einwohnerschaft von etwa 500, so dass der Anteil von 10 Prozent des Jahres 1744 in etwa wieder erreicht wurde. Auch in dieser Zeit war die Rother jüdische Gemeinde, relativ betrachtet, eine der größten im damaligen Kreis Marburg. Die Entwicklung einer Familie bis zum ausgehenden 19. Jahrhundert ist beispielhaft anhand einer Stammtafel veranschaulicht (siehe Dok. 2.2). Die Anzahl der Familien verdoppelte sich auf acht und blieb bis Ende des 19. Jahrhunderts konstant. Die Familien hatten jedoch wesentlich weniger Kinder.
Die demographische Entwicklung der Juden in Roth und im Kreis Marburg lag im Trend der Zeit. Das dauerhafte Niederlassungsrecht „schuf die Voraussetzungen für eine Stabilisierung der jüdischen Minderheit im Rahmen der allgemeinen Bevölkerungsentwicklung“ (Battenberg, Juden, S. 277). In Städten und Dörfern in allen Teilen Hessens nahm die Zahl der jüdischen Einwohner kräftig zu bis in die 1870er Jahre des 19. Jahrhunderts. Danach hielt die Vermehrung nicht mehr mit der des christlichen Bevölkerungsanteils Schritt, so dass der jüdische Anteil prozentual sank. Ein weiteres Moment war die Verstädterung seit dem Ende des 19. Jahrhunderts. Stärker als die übrige Bevölkerung zog es die Juden in die Städte.
Wirtschaftliche Entwicklung
Wie bereits erwähnt, bestand im 18. Jahrhundert das strikte Verbot, landwirtschaftlich nutzbare Liegenschaften zu erwerben. Demzufolge besaßen die beiden jüdischen Familien in Roth nicht einmal ein Gärtchen, sondern lediglich ihre Wohnhäuser und ein kleines zugehöriges Höfchen. Der kurhessische Staat liberalisierte diese Beschränkungen Zug um Zug. Bereits aufgrund der Kurhessischen Verordnung "die Verhältnisse der jüdischen Glaubensgenossen als Staatsbürger betreffend" vom 14. Mai 1816 erhielten Juden die Möglichkeit, landwirtschaftliche Flächen zu erwerben, allerdings durften sie diese in den nächsten zehn Jahren weder veräußern, noch an Nicht-Juden verpachten (siehe Raum 13, Dok. 2, § 10). Das "Gesetz zur gleichförmigen Ordnung der besonderen Verhältnisse der Israeliten", vom 29. Oktober 1833 enthält keine Beschränkungen des Immobilienverkehrs für Juden mehr. Dieser war im Übrigen erst durch die 1832 erfolgte Ablösung der Grundlasten, die sog. Bauernbefreiung, vollständig liberalisiert worden. Ferner hatten Juden bereits 1816 Zugang zu allen Erwerbszweigen erhalten, also auch zu Handwerk und Landwirtschaft (siehe Raum 13, Dok. 2, § 1).
Diese Regelungen waren jedoch nicht Ausdruck einer besonders liberalen Haltung, sondern der kurhessische Staat verfolgte die Absicht, die Gleichstellung der Juden mit quasi erzieherischen Maßnahmen zu verbinden, sie von dem mit Misstrauen beäugten Geldverleih und von Handelsgeschäften abzubringen und sie den als Basis des Staates idealisierten Handwerken und der Landwirtschaft zuzuführen. Überdies schuf er innerhalb der Juden eine „Zwei-Klassen-Gesellschaft“, kam die Gruppe der sog. Nothändler, die sich von bescheidenen Handelsgeschäften wie Viehhandel im Kleinen, Trödel und Handel mit Faustpfändern ernährte, doch nicht in den Genuss der bürgerlichen Rechte (siehe Raum 13, Dok.2, § 15).
In Roth (wie auch in den anderen Orten der Region) lässt sich beobachten, dass die jüdischen Familien von ihren neuen Rechten, sich im Immobilienverkehr zu betätigen, sogleich Gebrauch machten. Mit einer Ausnahme erwarben alle Familien rasch ganze Gehöfte mit entsprechenden Nebengebäuden und angrenzenden Gärten. Außerdem stiegen zwei dieser Familien sogleich in den Erwerb von landwirtschaftlichen Flächen ein (Dok. 3.3 bis 3.5), im Laufe des 19. Jahrhunderts erwarben alle außer einer Familie Acker- und Weideland. Dabei zeigt sich, dass Äcker und Wiesen nicht zur Grundstücksspekulation gekauft wurden, offenbar auch nicht verpachtet wurden, sondern durchaus selbst bestellt und innerhalb der Familien vererbt wurden, wie die Auflassung von Isaak Höchster an seinen jüngeren Sohn Herz von 1839 zeigt (Dok. 3.5). Dazu hielten manche Juden auch einen kleinen Viehbestand (Dok. 3.6).
Aber wurden sie dadurch zu Bauern? Die Antwort lautet eindeutig nein. Der Umfang der landwirtschaftlichen Flächen blieb vergleichsweise gering, wenn auch bei manchen größer als in sozial schwachen christlichen Familien des Dorfes (Dok. 3.6). Ihr Haupterwerb, der aus Berufsstatistiken der Zeit hervortritt, war der Handel (mit Vieh, Textilien, Kurzwaren; Dok. 4.0-4.2) sowie die Metzgerei (siehe Dok. 2.0). Dem Handwerk wandten sich Rother Juden überhaupt nicht zu, was andernorts jedoch durchaus der Fall sein konnte. Es lässt sich also festhalten: sie nutzten die neuen Möglichkeiten im Immobilienverkehr, um „Nebenerwerbsbauern“ zu werden.
Auch hier lagen die Rother Juden im Trend der Zeit. Der kurhessische Staat erreichte sein „Erziehungsziel“ bis auf wenige Ausnahmen nicht. Die Juden blieben bei ihren althergebrachten Gewerben. Aus den Beobachtungen folgt aber doch: Vielen Landjuden ging es im 19. Jahrhundert wirtschaftlich so gut, dass sie in der Lage waren, Gehöfte und landwirtschaftlich genutzte Flächen zu erwerben. Dieser Landbesitz und die gehaltenen Tiere bedeuteten eine zusätzliche wirtschaftliche Absicherung, die Existenz stand also nun auf mehreren Füßen. Ein solches Wirtschaften war im Übrigen typisch für die christliche Bevölkerung von Roth. Es gab zahlreiche Familien, die von der Landwirtschaft und einem Gewerbe lebten, anders als die Juden zumeist von einem Handwerk.
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die jüdische Gemeinde Roth im 19. Jahrhundert eine ausgesprochen dynamische demographische Entwicklung nahm, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sogar etwas stärker wuchs als der christliche Anteil. Die Zahl der Familien verdoppelte sich dabei von vier auf acht. Prozentual gesehen erreichte sie bei weitem den höchsten jüdischen Bevölkerungsanteil im Altkreis Marburg (d.h. ohne Kirchhain). Die erweiterten Möglichkeiten wirtschaftlicher Betätigung nutzten die Juden, indem die meisten von ihnen Land erwarben, wahrscheinlich auch selbst bewirtschafteten und damit ihren Wohlstand vergrößerten, ohne dass diese Aktivitäten auf dem Agrarsektor ihr Haupterwerb wurden. Von Anfang an bestand eine klare soziale Differenzierung zwischen den einzelnen jüdischen Familien. Zwei Familienverbände – Höchster bzw. Höxter und Stern – standen über Jahrzehnte an der Spitze der sozialen Leiter.
Literatur
Battenberg, J. Friedrich, Juden und Antisemitismus, in: Handbuch der hessischen Geschichte, Bd. 1. Bevölkerung, Wirtschaft und Staat in Hessen 1806-1945, hrsg. von Winfried Speitkamp (Veröff. der Hist. Komm. für Hessen, Bd. 63), Marburg 2010, S. 275-291.
Demandt, Karl E., Die hessische Judenstättigkeit von 1744, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 23, 1973, S. 292-332.
Greve, Barbara, Der Ackerbau der Israeliten. Ein Beitrag zu Theorie und Praxis der kurhessischen Judenemanzipation, in: Zeitschrift des Vereins für hessische Geschichte und Landeskunde 97, 1992, S. 107-126.
Hentsch, Gerhard, Gewerbeordnung und Emanzipation der Juden im Kurfürstentum Hessen (Schriften der Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen, Bd. IV), Marburg 1979.
Kropat, Wolf-Arno, Die Emanzipation der Juden in Kurhessen und Nassau im 19. Jahrhundert, in: Neunhundert Jahre Geschichte der Juden in Hessen. Beiträge zum politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben (Schriften der Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen, Bd. VI), Wiesbaden 1983, S. 325-349.
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