1. Staatspolitischer Ausschuß
Am 31. März 1945 ordnete Bürgermeister Voß auf Weisung der Amerikaner an, daß alle Behörden der Stadt vorläufig zu schließen seien.[4]
Die amerikanische Besatzungsmacht brachte Verwaltungsspezialisten mit, die zunächst die wichtigsten Organe der Marburger Verwaltung wieder in Funktion setzten, um der schwerwiegendsten Probleme des Augenblickes Herr zu werden. Die Militärregierung ernannte Eugen Siebecke zum Oberbürgermeister [5] und Erich Kroll zum Polizeichef. Sämtliche Behördenvorsteher wurden ausgewechselt, ihre Ämter[6] nahmen die Arbeit nach Beseitigung aller übrigen nationalsozialistischen Führungskräfte wieder auf.[7] Eine erste deutsche Initiative trat im April 1945 an die Öffentlichkeit. Einige frühere liberale Partelfreunde um Ludwig Mütze und Hermann Bauer[8] gründeten einen "Ordnungsausschuß", um am Wiederaufbau eines demokratischen Staatswesens teilzunehmen. In ihrem Aufruf "Für Ordnung und Sauberkeit" (Dokument 1) wollten sie einer doppelten Aufgabe gerecht werden: als Petitionsausschuß den Marburgern zur Verfügung stehen und bei der Entnazifizierung, der als vordringlich angesehenen Aufgabe, mitwirken. Unterschrieben war der Aufruf einerseits von den Mitgliedern des Ordnungsausschusses, im wesentlichen bürgerlichen Politikern der Weimarer Republik, und andererseits von einem Personenkreis, der sich als Vertreter der Marburger Arbeiterschaft betrachtete.[9]
Als Führer des Ordnungsausschusses trat immer wieder Ernst Sangmeister hervor, der von der Gruppe um Mütze und Bauer als "deutschnational" bezeichnet wurde.[10] Deshalb setzten diese bei der Militärregierung und dem Oberbürgermeister die Auflösung des Gremiums durch. Mit Siebeckes Einverständnis gründete Mütze als "Staatspolitischer Referent" den zwanzigköpfigen "Staatspolitischen Ausschuß". Er legte der Militärregierung am 15. Mai in einem Schreiben Zusammensetzung und Ziele des Ausschusses dar (Dokument 2).[11]
Der Oberbürgermeister kritisierte in seiner Stellungnahme an die Militärregierung (Dokument 3) die Größe des Ausschusses und das Fehlen eines "konservativen" Gegners des Hitlerregimes. Siebecke ließ sich von dem evangelischen Pfarrer Dr. Ritter als Vertreter dieser Gruppe Otto Roppel und Otto Dula empfehlen, die dem von den Amerikanern genehmigten Fünferausschuß beitraten.[12]
Der Staatspolitische Ausschuß beschäftigte sich mit allen Fragen von öffentlichem Interesse (Dokument 4).[13] Die Militärregierung hatte ihn jedoch nur als Berater in Personalfragen und als Informationslieferant genehmigt und beobachtete mit Mißtrauen, daß der Ausschuß ständig seinen Kompetenzbereich zu erweitern suchte. Unter den Papieren Hermann Bauers befindet sich ein Antrag des Gremiums (Dokument 5), in dem es vom Oberbürgermeister seine offizielle Einsetzung als provisorischer Stadtrat forderte.[14] Diese Ansprüche führten wiederholt zu Spannungen zwischen beiden Seiten.[15] Auch von der Politik des Detachements zeigte sich der Ausschuß enttäuscht. Er klagte über Rücksichtslosigkeit und mangelnde Kooperationsbereitschaft von Seiten der Besatzungsmacht und faßte seine Kritik in drei Berichten zusammen (Dokument 6 und Dokument 7).[16]
Hermann Bauers Schreiben beschäftigt sich mit dem Problem der Kollektivschuld[17] und den daraus resultierenden Beschränkungen für politische Initiativen von deutscher Seite.[18] Der Bericht des Staatspolitischen Ausschusses geht auf rücksichtsloses Verhalten der amerikanischen Truppen gegenüber der Zivilbevölkerung und unnötige Härten der Besatzungspolitik ein.[19] Auch zu den sich entwickelnden politischen Tendenzen in der Bevölkerung gab der Ausschuß regelmäßig Berichte ab. (Dokumente 8 und Dokument 9).[20]
Die im Grundsatz von der Konzeption der Amerikaner, besonders in der Frage der Entnazifizierung,[21] abweichenden Vorstellungen vom Wiederaufbau und die Kompetenzüberschreitungen des Ausschusses führten im Herbst 1945 zu unüberbrückbaren Konflikten. Auslösendes Moment war der Streit um die Investigatoren. [22] Im Oktober 1945 befahl die Militärregierung dem Ausschuß, sich auf beratende Tätigkeit zu beschränken (Dokument 10). Daraufhin erwog der Ausschuß seinen Rücktritt.[23] Die Entlassung seines Vorsitzenden Treut im Dezember des Jahres veranlaßte das Gremium endgültig zu diesem Schritt (Dokument 11). [24]
Anmerkungen:
[4] VOSS an die einzelnen Behördenvorsteher, 31. 3. 1945, Akten des Staatspolitischen Ausschusses (künftig zitiert als "SPA-Akten"), Magistratsarchiv Marburg.
[5] Vgl. H. BAUER: Erinnerungen an 1945, in: Tradition und Fortschritt. 30 Jahre Marburger LDP/F.D.P., S.11.
[6] So schrieb SIEBECKE erst Anfang Mai an die Militärregierung, man wolle die Finanzverwaltung vorläufig wieder in Kraft setzen, bis eine neue Behörde von den Amerikanern aufgebaut würde. SIEBECKE an die Militärregierung, 7. 5. 1945, SPA-Akten, Magistratsarchiv Marburg.
[7] Vgl. GIMBEL, Marburg nach dem Zusammenbruch, S. 3; DERS., Eine deutsche Stadt, S. 70, S. 87-90.
[8] Vgl. GIMBEL, Marburg nach dem Zusammenbruch, S. 1.
[9] Diese Gruppe hatte über den von den Amerikanern ernannten Bürgermeister Schwedes, einen Sozialdemokraten, der später Schulrat im Landkreis wurde, Kontakt zu Mütze aufgenommen. Vgl. [Dokument 4], Abschnitt 1. Vgl. auch GIMBEL, Eine deutsche Stadt, S. 117-119.
[10] BAUER an Mr. Seamon, 22. 4. 1945. Papiere im Privatbesitz Hermann Bauers (künftig zitiert als "Bauer- papiere").
[11] Vgl. GIMBEL, Marburg nach dem Zusammenbruch, S. 5 ff.; vgl. auch DERS., Eine deutsche Stadt, S. 119-123, S. 123-125, sowie E. NEUSÜSS-HUNKEL, Parteien und Wahlen in Marburg nach 1945, Meisenheim am Glan 1973, S. 51 ff.
[12] In seinem Antwortbrief schlug Pfarrer Dr. RITTER, der der reformierten Universitätsgemeinde zugehörte, folgende Personen vor: 1. Otto Roppel, Buchhändler; 2. Friedrich Bunnemann, Oberstudiendirektor; 3. Heinrich Unckel, Direktor der Volksbank; 4. Otto Dula, Kaufmann; 5. Prof. Dr. Gerhard Albrecht; ferner die Professoren v. Hippel und Herfahrdt, den Apotheker Opfer, Kohlenhändler Vaupel und Metzgermeister Elmshäuser.RITTER an den Oberbürgermeister, 22.5.1945. SPA-Akten, Magistratsarchiv Marburg. Obwohl Roppel als "Konservativer" Mitglied des Ausschusses wurde, wehrte er sich gegen dieses Prädikat und wies darauf hin, er sei "trotz konservativ-kirchlicher Anschauungen früher Sozialist gewesen". Sitzungsprotokoll des SPA vom 26. 5. 1945, SPA-Akten, Magistratsarchiv Marburg.
[13] 13 Vgl. GIMBEL, Marburg nach dem Zusammenbruch, S. 7 f., sowie DERS., Eine deutsche Stadt, S. 128-132.
[14] Vgl. auch [Dokument 8].
[15] S. hierzu H. BAUER: Erinnerungen an 1945, in: Tradition und Fortschritt. 30 Jahre Marburger LDP/F.D.P., S.11.
[16] Der Bericht Ludwig MÜTZES Ist derzeit in Marburg nicht mehr aufzufinden (vgl. Vorwort). Auch in den Akten des SPA im Magistratsarchiv, im privaten Nachlaß Jakob Römers, Mützes Parteifreund, und in den Beständen der F.D.P. ist der Bericht u. W. nicht vorhanden. Zum Inhalt des Mützeschen Berichts vgl. GIMBEL, Marburg nach dem Zusammenbruch, S. 9 f. sowie DERS., Eine deutsche Stadt, S. 102 ff.
[17] Vgl. GIMBEL, Marburg nach dem Zusammenbruch, S. 11
[18] Enttäuschung darüber war auch ein Grund für Bauers Rückzug aus dem SPA. Er meinte, seine bisherige Arbeit sei meist vergeblich und gab an, er wolle sich ganz dem Aufbau einer demokratischen Presse widmen. BAUER an Mütze, undatiert (Aug. 1945), Bauerpapiere
[19] Vgl. GIMBEL, Marburg nach dem Zusammenbruch, S. 11 f.
[20] Vgl. hierzu GIMBEL, Eine deutsche Stadt, S. 122, S. 132. [21] Vgl. Kap.II [22] Vgl. GIMBEL, Marburg nach dem Zusammenbruch, S. 12 ff.
[23] Notiz des SPA, undatiert (5. 12. 1945), SPA-Akten, Magistratsarchiv Marburg.
[24] Die Begründung für die Entlassung Treuts war ein Vorwand, um gegen den Ausschuß vorzugehen: Traut hatte bei seinem Eintritt in das Gremium den Amerikanern seine Parteimitgliedschaft nicht verschwiegen. Staatspolitischer Referent an CIC, 15. 5. 1945, SPA-Akten, Magistratsarchiv Marburg.
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