Bericht des Staatspolitischen Ausschusses zur politischen Lage in Marburg vom 10. 9. 1945 [54]
Staatspolitischer Ausschuß
Marburg-Lahn, den 10. September 1945
Betr.: Politische Lage in Marburg
In Marburg sind zur Zeit noch keine politischen Parteien im Leben und an der Arbeit. Es sind wohl Bestrebungen erkennbar, die auf die Gründung politischer Parteien abzielen, insbesondere die Ansätze zur Bildung einer einheitlichen Arbeiterpartei, die die frühere kommunistische und sozialdemokratische Partei umfassen. Ansätze zur Gründung einer demokratischen Partei sind dagegen noch nicht in Erscheinung getreten. Es sieht so aus, als ob in der früheren bürgerlichen Linken Erwägungen im Gange seien, die von der alten demokratischen Partei abrücken und zur Mitarbeit in einer großen antifaschistischen und antimilitaristischen Front bereit sind. Der rechte Flügel der alten demokratischen Partei, verbunden mit den Liberalen Stresemannscher Richtung werden wohl eine neue demokratische Partei ins Leben rufen, die aber Gefahr läuft, Sammelbecken von allen reaktionären Bestrebungen zu werden.
In einer christlich-demokratischen Partei könnten sich katholische und protestantische, überwiegend kirchlich gesinnte Wähler zusammenschließen.
Aus den umlaufenden Gerüchten und besonders aus den Untergrund-Strömungen gegen die bestehenden Behörden und ihre neuen Träger ist auf eine starke nationalsozialistische und militaristisch-reaktionäre (deutschnationale), leider unkontrollierbare Arbeit zu schließen.
Deutschnationale Gegner des Nationalsozialismus finden bei amerikanischen Dienststellen, die deutsche innerpolitische Verhältnisse nicht zu durchschauen vermögen, bedauerlicherweise zu oft Gehör in ihrer geheimen Wühlarbeit gegen die Führer der antifaschistischen Front.
In dem im April in Marburg ins Leben getretenen staatspolitischen Ausschuß haben sich führende Persönlichkeiten der ausgesprochen antifaschistischen und antimilitaristischen Bevölkerungsschichten, die mit den deutschnationa[en und reaktionären Kreisen nicht sympathisieren, zusammengeschlossen, um vor allem dem Oberbürgermeister der Stadt die Verbindung mit und den Rückhalt an der Bevölkerung zu sichern.
Der staatspolitischeAusschuß arbeitet loyal mit der Militär-Regierung und allen deutschen Behörden zusammen, um das öffentliche Leben und besonders alle Verwaltungszweige von aktiven und belasteten Nazis zu säubern und die Entwicklung zu einer friedlichen demokratischen Lebensauffassung und Lebensgrundlage anbahnen zu helfen.
Der staatspolitische Ausschuß wird seine Aufgabe mit dem Tage als erfüllt ansehen, an dem neue politische Parteien auf Grund freier und geheimer Wahlen die Vertreter unserer Stadtbevölkerung mit demokratischen Rechten und Befugnissen betraut haben.
Anmerkung:
[54] Bericht des Staatspolitischen Ausschusses zur politischen Lage in Marburg vom 10. 9. 1945. SPA-Akten, Magistratsarchiv Marburg.
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