Bericht des Staatspolitischen Ausschusses zur politischen Lage in Marburg vom 11.10.1945 [55]
Staatspolitischer Ausschuß
Marburg-Lahn, den 11. Oktober 1945
Bericht über die politische Lage in Marburg
I.
In Zusammenhang mit der bevorstehenden Reinigung des Bauernstandes von aktiven Nazis wird in demokratischen Kreisen das Eindringen von östlichen Landbewerbern als Treuhänder oder Käufer befürchtet. Zahlreiche ostelbische Großgrundbesitzer, zum Teil aus dem preußischen Landadel stammend, werden in Massen Bauerngüter zu erwerben suchen und ihre deutschnationalen und militaristischen Traditionen in unsere hessische Bauernschaft hineintragen. Daher sollten für landwirtschaftliche Treuhänder und für Käufer von Nazi- Bauernstellen möglichst nur hessische Bauern zugelassen werden. Es ist auffallend, daß alle Persönlichkeiten östlich der Elbe, die sich hier um irgend eine Stelle oder einen Erwerb bemühen, mit der Nazipartei niemals etwas gemein gehabt haben wollen.
II.
In Arbeiterkreisen wird die Degradierung der aktiven Nazis, die der bürgerlichen und intelligenten Bevölkerungsschicht angehörten, zu einfachen Arbeitern als politische, soziale und wirtschaftliche Belastung der Arbeiterklasse empfunden. Es wird eine politische Zukunftsgefahr darin gesehen, daß aus bisher höher gelagerten Berufsschichten zu den Arbeitermassen unzufriedene Elemente stoßen, die aber mit ihren bisherigen Lebenskreisen verwachsen bleiben. Sie werden vermöge ihrer besseren geistigen Schulung allmählich einen sozial-revolutionären Einfluß auf die mit ihrer Lebenslage zufriedenen Arbeiter ausüben und können so Unruheherde bilden.
Da die Wertung der Arbeit jeder Art in Europa und besonders in Deutschland nicht amerikanisch-demokratisch, sondern europäisch und besonders bei uns standesgebunden ist, empfinden die Arbeiter-Kreise die Degradierung der aktiven Nazis bürgerlicher und intelligenter Berufszweige als Belastung ihrer eigenen Berufstätigkeit. Die Naziarbeiter werden innerhalb der Arbeiterschaft hemmend auf die Arbeitsleistung einwirken und diese herabdrücken. Eine völlige Proletarisierung der Nazi-Arbeiter wird nicht erreicht werden, da sie mit ihren Familien bürgerlichen Standes in Verbindung bleiben und die Einflüsse dieser verärgerten bürgerlichen Kreise nicht ausgeschaltet werden können.
Aus der eigenen Unzufriedenheit mit ihrer erzwungenen neuen sozialen Lage werden sie ihre Mißstimmung in die gesunden Arbeiterschichten hineinzutragen versuchen und deren Radikalisierung fördern.
Diese große Gefahr, die aus der Entnazifizierung des gesamten öffentlichen Lebens unserer Stadt zu kommen droht, könnte vermieden werden, wenn die wirtschaftlich zu bestrafenden Nazis in ihren bisherigen Berufszweigen verbleiben, bzw. über das Arbeitsamt darin erneut ihren Arbeitseinsatz finden könnten. Ihr Einkommen müßte dann auf einen Lohnsatz reduziert werden und der Unterschied zwischen ihren früheren Gehältern oder Geschäftseinkünften und ihren heutigen Löhnen könnte einem Sonderkonto zugeleitet werden.
III.
In einem erweiterten Kreise der demokratischen Politiker der Stadt Marburg erörterte Landrat a. D. Dr. Bleek[56] die Notwendigkeit der Gründung einer demokratischen Partei. - Herr Professor Busemann führte aus, daß der Begriff Demokratie heute nicht als allein tragfähig für die Bewältigung der Zeitaufgaben angesehen werden könnte. Er betonte die vordringlichen Erziehungsaufgaben an der politisch und moralisch irregeführten Jugend. - Herr Professor Herfahrdt [57] empfahl besonders für die bevorstehenden Gemeindewahlen eine überparteiliche Plattform, da eine parteimäßige politische Vorbereitung der Gemeindewahlen ihm noch verfrüht erscheine. Auch er stellt die Erziehung zur Demokratie in den Vordergrund, während Herr Dula in Anerkennung der derzeitigen Bedürfnisse der Bevölkerung Marburgs die Gründung einer demokratischen Partei schon deshalb für notwendig hält, um die Gefahren des Radikalismus von links und von rechts abwehren zu können. - Herr Treut spricht für die gemeinsame politische Front aller Antinazigruppen, erklärt aber, daß nach der einmal angemeldeten Gründung der kommunistischen und der beabsichtigten Neubelebung der sozialdemokratischen Partei die Gründung einer selbständigen demokratischen Partei eine notwendige Folgerung wäre. Nach vollzogener Formierung dieser drei Parteien müßte aber sofort eine Arbeitsgemeinschaft derselben und eine Volksfront gegen die nazistischen und nationalistischen Gefahren von rechts gebildet werden. - Die Gründung einer demokratischen Partei kommt, wie Herr Lehrer Römer[58] ausführt, auch den politischen Bedürfnissen des Landkreises entgegen, in dem sich bereits unkontrollierbare politische Vereinigungen, wie eine "antifaschistische Vereinigung von Kirchhain", regen.
Die politische Jugend von Marburg hat auch einen Sprecher in dem demokratischen Kreise gehabt, der die allgemeine politische Passivität der Jugend hervorhebt und auf eine Grundstimmung in der Jugend hinweist, die jede autoritäre Partei und jede Art von Diktatur von links oder von rechts aufs schärfste ablehnt und in der wohl eine neue demokratische oder auch christlich-demokratische Partei Anhänger finden könne.
Dem Programm der Berliner christlichen Union des früheren Reichsministers Dr. Hermes[59] wird zwar beigestimmt, aber bezweifelt, daß die katholische Kirche als solche auf ihren Einfluß in der Politik verzichten wird. Im Schatten der christlich-demokratischen Partei sieht man vielmehr das alte Zentrum wieder auftauchen, das besonders auf dem Gebiete der Kulturpolitik (Schule und Jugenderziehung) die alten kirchlichen Forderungen anmelden wird. (Fuldaer Bischofskonferenz).
Auf Umfrage in dem versammelten demokratischen Kreise ergibt sich die für die Gründung einer demokratischen Partei notwendige Mitgliederzahl.
Die Grundstimmung des versammelten Kreises alter Demokraten war die, daß unser Volk mit dem an sich begrüßenswerten Geschenk freier demokratischer Wahlen auch im engen Rahmen der Stadt- und Gemeindewahlen noch nicht zu politisch ernstzunehmenden Ergebnissen kommen werde.
IV.
Der staatspolitische Ausschuß bei dem Herrn Landrat [60] ist angeblich gebildet worden, bis auf den heutigen Tag ist er aber noch nicht in Tätigkeit getreten. Die Teilnahme eines katholischen Geistlichen, des Pfarrers Hild, wird deshalb beanstandet, weil sich Geistliche grundsätzlich aus der Tagespolitik fernhalten sollen. In dem neuen demokratischen Staate Groß-Hessen darf die Kirche nicht wieder, wie es in früheren Zeiten im deutschen Reiche geschehen ist, in den politischen Tageskampf hineingezogen werden.
Der staatspolitische Ausschuß, dem von dem Herrn Gouverneur das Vertrauen der Militär-Regierung ausgesprochen worden ist, hat es bitter empfunden, daß unverantwortliche politische Giftmischer und Denunzianten bei der amerikanischen Regierung noch Zutritt haben. In Obereinstimmung mit dem Herrn Oberbürgermeister ist der staatspolltische Ausschuß einstimmig der Meinung, daß solchen Verleumdern und Gerüchtemachern, die vor amerikanischen Dienststellen die deutschen demokratischen Aktivisten und Mitarbeiter der amerikanischen Militär-Regierung verdächtigen und andererseits in der Bevölkerung die amerikanische Regierung verächtlich machen, endlich das Handwerk gelegt werden muß.
Einer der schlimmsten dieser politischen Hyänen ist der Studienassessor a. D. Sangmeister, dessen ganze politische Vergangenheit nur als die eines geschwätzigen politischen Intriganten bekannt ist. Seiner bedient sich aber die alte reaktionäre deutschnationale und militaristische Klique in Marburg, die als politische Gefahr nicht gering geachtet werden darf.
Anmerkungen:
[55] Bericht des Staatspolitischen Ausschusses zur politischen Lage in Marburg vom 11. 10. 1945. SPA-Akten, Magistratsarchiv Marburg.
[56] Karl-Theodor Bleek (LDP) war 1946 bis 1951 Oberbürgermeister von Marburg. Später wurde er Staatssekretär im Bundesinnenministerium (1951-1957) und danach im Bundespräsidialamt (1957-1961).
[57] In seinem Antwortbrief schlug Pfarrer Dr. RITTER, der der reformierten Universitätsgemeinde zugehörte, folgende Personen vor: 1. Otto Roppel, Buchhändler; 2. Friedrich Bunnemann, Oberstudiendirektor; 3. Heinrich Unckel, Direktor der Volksbank; 4. Otto Dula, Kaufmann; 5. Prof. Dr. Gerhard Albrecht; ferner die Professoren v. Hippel und Herfahrdt, den Apotheker Opfer, Kohlenhändler Vaupel und Metzgermeister Elmshäuser.
RITTER an den Oberbürgermeister, 22.5.1945. SPA-Akten, Magistratsarchiv Marburg. Obwohl Roppel als "Konservativer" Mitglied des Ausschusses wurde, wehrte er sich gegen dieses Prädikat und wies darauf hin, er sei "trotz konservativ-kirchlicher Anschauungen früher Sozialist gewesen". Sitzungsprotokoll des SPA vom 26. 5. 1945, SPA-Akten, Magistratsarchiv Marburg.
[58] Jakob Römer, Lehrer aus Marbach, wurde der erste Vorsitzende der LDP Marburg-Land. Er war auch maßgeblich beteiligt an den Bemühungen der hessischen Lehrerschaft, nach 1945 wieder eine gemeinsame demokratische Organisation aufzubauen.
[59] Andreas Hermes (1878-1964), Mitbegründer und Vorsitzender der CDU in Berlin und der Sowjetischen Besatzungszone.
[60] Die Militärregierung hatte vorgeschlagen, auch der Landrat des Kreises Marburg solle an den Sitzungen des Staatspolitischen Ausschusses gelegentlich teilnehmen. Da der Ausschuß sich jedoch als Teil der Verwaltung verstand und Stadt und Landkreis verschiedene Verwaltungseinheiten bildeten, drängte der Ausschuß auf Gründung eines analogen Gremiums im Landkreis. Vgl. GIMBEL, Eine deutsche Stadt, S. 132 f.
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