Antrag des Staatspolitischen Referenten Ludwig Mütze auf Anerkennung des Staatspolitischen Ausschusses durch die amerikanische Militärregierung vom 15. 5. 1945
An die
Militärregierung
durch Herrn Oberbürgermeister Siebecke[36]
Der Herr Oberbürgermeister hat mich zu seinem staatspolitischen Referenten ernannt. Ich habe die Aufgabe, mitzuhelfen, den Nationalsozialismus in unserer Stadt auszurotten und dafür zu sorgen, daß er in keiner Form und Person wieder in Erscheinung tritt. In dieser Arbeit stütze ich mich auf einen staatspolitischen Ausschuß, der aus zwanzig politisch unbedingt zuverlässigen Männern der Stadt Marburg besteht. Sie gehören den verschiedensten Berufen und Ständen an und waren vor 1933 in der demokratischen Partei (DDP), in der sozialdemokratischen Partei (SPD) und in der kommunistischen Partei (KPD) organisiert.[37] Diese Männer sind sämtlich bedingungslose Gegner des Nationalsozialismus. Sie haben dauernd "ihr Ohr am Volk" und unterrichten mich laufend über alle Vorgänge, über die Stimmung und Meinung, über das Denken und Wollen der Marburger Bevölkerung.
Dieser Ausschuß bittet um das Vertrauen und um die Anerkennung der Militärregierung.
Wie sieht der staatspolitische Ausschuß, wie sehe ich die gegenwärtige politische Lage in Marburg?
Der Nationalsozialismus ist durch den Sieg der alliierten Militärmächte über Deutschland niedergeschlagen worden. Er scheidet für alle Zeiten als Grundlage und Grundgesetz der staatspolitischen Organisation des deutschen Volkes aus. Davon ist jeder denkende deutsche Mensch ebensogut überzeugt, wie er weiß, daß die geistige Oberwindung der nationalsozialistischen Irrlehren das große Zukunftsproblem der deutschen Volksbildung und der Jugenderziehung sein wird.
In Marburg sind die Hauptträger des Systems nazistischer Gewaltherrschaft von der Militärregierung inhaftiert und damit aus dem öffentlichen Leben ausgeschaltet worden. Die Mehrheit der Einwohner unserer Stadt ersehnt eine Neugestaltung des deutschen Volks- und Staatslebens, die nach den Grundsätzen des Rechtes und der Gerechtigkeit und nach den sittlichen Geboten echter Menschlichkeit durchgeführt werden, wie sie der verstorbene amerikanische Präsident Roosevelt sooft überzeugend und ergreifend der gequälten Menschheit klargelegt und verkündet hat.
In dieser Einsicht und in dieser Einstellung der überwiegenden Mehrheit der Marburger Bevölkerung liegen alle Voraussetzungen für einen örtlichen Erfolg des Bemühens der Militärregierung, das deutsche Volk zu einem demokratischen und freiheits- und friedliebenden Glied der Völkerfamilie unserer Erde zu machen.
Gestört und zerstört könnten jedoch diese günstigen Voraussetzungen werden, wenn die gutwilligen Menschen in Marburg in ihren Hoffnungen auf Riecht und Gerechtigkeit enttäuscht würden. Diese Gefahr wäre gegeben, wenn es einzelnen Männern aus unserer Stadt gelingt, das Vertrauen der Militärregierung zu erwerben, ohne daß sie es auf Grund ihrer politischen Vergangenheit oder ihrer charakterlichen Haltung verdienen. Die Militärregierung kann die Marburger Menschen im einzelnen nicht kennen, die sich ihr zur Mitarbeit anbieten. Der staatspolitische Ausschuß aber, der fest in der Bevölkerung verwurzelt ist, könnte der Militärregierung bei der Beurteilung der politischen und charakterlichen Zuverlässigkeit aller Bewerber um Stellen und um Anstellung im öffentlichen städtischen oder staatlichen oder privaten Dienst behilflich sein. Deshalb bittet der Ausschuß, ihm die Möglichkeit dieser Hilfe zu geben und durch den Herrn Oberbürgermeister in jedem Einzelfalle die Meinung des Ausschusses erfragen zu lassen. Dann würde es z. B. vermieden werden, daß Beamte zur Entlassung kommen, die ausgesprochene Gegner des Nationalsozialismus gewesen sind und daß andere in ihren Ämtern verbleiben, die aktiv den Nazismus unterstützt haben oder aber seine fanatischen Anhänger waren. Dann erschiene es ausgeschlossen, daß sich in der Wirtschaft unserer Stadt jetzt wieder Männer in den Vordergrund drängen und sich nicht ohne Erfolg um das Vertrauen der Militärregierung bemühen, die ausgesprochene Günstlinge der Nazipartei waren und in den Jahren der Parteiherrschaft große Gewinne einheimsen konnten. Vor mir liegt die Anweisung der Militärregierung - Finanz-Abteilung - (MGAB-1 (3) - an finanzielle Unternehmen und Regierungsfinanzbehörden (Personal), die genaue Richtlinien gibt für die Vornahme von Entlassungen und Suspendierungen von Beamten und Angestellten aller finanziellen Unternehmungen und Stellen öffentlicher und privater Natur. Es wird hier im einzelnen bestimmt, wer auf Grund seiner politischen Vergangenheit zu entlassen, wer bis zur Überprüfung seiner Personalangelegenheiten zu suspendieren ist und wer im Amte verbleibt. Bei der personellen Neugestaltung der städtischen Kassen und des staatlichen Finanzamtes in Marburg wird aber offenbar nicht nach diesen Anweisungen der Militär-Regierung, die öffentlich angeschlagen werden sollen, damit sie jeder Angestellte sowie auch das Publikum lesen kann, verfahren. Geschworene Gegner des Nazismus und charakterlich hochstehende Männer sind zur Entlassung gekommen, ausgesprochene Anhänger des Hitlerismus und charakterliche Wetterfahnen aber sind im Amte verblieben.
Diese Beobachtungen haben eine gewisse Erregung in der Bevölkerung zur Folge. Sie verletzen das gesunde Rechtsempfinden, das sich viele Menschen durch die rechtlose Zeit des Naziterrors hindurchgerettet und bewahrt haben. Ein Weiterwachsen dieser Erregung aber würde die Arbeit der Militärregierung hemmen und ihre Erfolgsaussichten schmälern. Ja, es zöge damit die große Zukunftsgefahr herauf, daß die enttäuschten Beamten, Angestellten oder Arbeiter, die entgegen den erwähnten und von jedermann als gerecht anerkannten Anweisungen der Militärregierung aus ihren Ämtern entlassen worden sind, oder die als Kaufleute oder Handwerker unverdient in ihrer wirtschaftlichen Entwicklung auch heute wieder von Kriegsgewinnern und Parteigünstlingen niedergedrückt werden, in eine Verzweiflungsstimmung geraten, die sie früher oder später dem Radikalismus und dem Anarchismus in die Arme treiben müßte.
Die Marburger Bevölkerung ist jedem politischen Radikalismus fern, und eine ruhige politische Entwicklung der Bevölkerung und der Verhältnisse in unserer Stadt ist unter der Führung von Herrn Oberbürgermeister Siebecke gesichert, wenn die Grundsätze der Demokratie, des Rechtes, der Freiheit und der Befreiung in allen Zweigen unseres städtischen und privaten Lebens nach den festen und unabänderlichen Grundsätzen der Militärregierung zur Durchführung kommen.
Hierbei will der staatspolitische Ausschuß helfen. Er bittet die Militärregierung, diese Hilfe anzunehmen und sich ihrer zu bedienen.
Sollte der zwanzigköpfige Ausschuß der Militärregierung zu groß erscheinen, so bitte ich um den Befehl, ihn auf fünf bis zehn Mitglieder zu beschränken, deren Namen und Personalien ich dann baldigst durch den Herrn Oberbürgermeister der Militärregierung unterbreiten würde.
L. Mütze
Anmerkungen:
[36] Antrag des Staatspolitischen Referenten L. MÜTZE auf Anerkennung des Staatspolitischen Ausschusses durch die Amerikaner vom 15. 5. 1945. SPA-Akten, Magistratsarchiv Marburg.
[37] Zur namentlichen Aufstellung der Mitglieder, vgl. GIMBEL, Marburg nach dem Zusammenbruch, S. 6; DERS., Eine deutsche Stadt, S. 120, sowie NEUSÜSS-HUNKEL, a.a.O., S. 52.
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