Antrag des Staatspolitischen Ausschusses auf seine Einsetzung als Stadtrat, undatiert (August 1945) [44]
Obwohl der Staatspolitische Ausschuß von der Amerikanischen Militär-Regierung offiziell als Glied der Marburger kommunalen Verwaltung anerkannt ist, wird er von Herrn Oberbürgermeister Siebecke negiert, ja geradezu brüskiert; zumindest glaubt der Herr Oberbürgermeister den Ausschuß mit einem Lächeln abtun zu können: "Der Ausschuß mag da oben tagen, doch anerkannt ist er nicht; bestimmen werde ich, nur ich allein!"
Diese Dissonanz im Marburger Stadtregiment gilt es zu bereinigen, und zwar schnellstens, ehe daraus weiterer Schaden für die Stadt erwächst. Wir fordern daher einen umgehenden klaren Einbau des Ausschusses in die Stadtverwaltung und eine eindeutige Festlegung der Rechte und Pflichten des Ausschusses. Nach dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Führerprinzips kann die Stadtverwaltung jetzt u. E. nur nach dem demokratischen System ausgerichtet werden, wie sie vor 1933 bestand, eingeschränkt nur dadurch, daß über der städt. Selbstverwaltung die Besatzungsbehörde steht, zum anderen dadurch, daß ein Stadtverord netenkollegium vorerst nicht gebildet werden kann. Der Stadtrat kann also nicht aus dem Stadtverordnetenkollegium hervorgehen, da dessen öffentliche Wahl noch nicht möglich ist; der Stadtrat kann also nur gebildet werden aus Bürglern, die getragen werden vom Vertrauen der Marburger antinationalsozialistischen Bevölkerungskreise. Dieses Vertrauen können die 5 Mitglieder des Staatspolitischen Ausschusses für sich in Anspruch nehmen, und sie folgern hieraus das Recht, als Stadtrat anerkannt zu werden und demgemäß
mit den Rechten und Pflichten des Stadtrats
nach der vor 1933 bestehenden Gemeindeordnung
belehnt und belastet zu werden.
Begründung: Die Mitglieder des Staatspolitischen Ausschusses waren ehrlich bemüht, dem Oberbürgermeister beratend zur Seite zu treten. Sie haben in ihren Beratungen be- wiesen, daß sie bereit und fähig sind, alle persönlichen Belange hintan zu stellen und nur dem Allgemeininteresse zu dienen, obwohl sie schmerzlich empfinden mußten, daß sie fast nur mit negativen Aufgaben - Abbau nationalsozialistischer Überreste, Ausmerzung von untragbaren Personen usw. - betraut waren, während kaum eine Aufbau-Aufgabe in den Ausschuß hineingetragen wurde.[45] Und dann mußten wir sogar in wiederholten Fällen erfahren, daß unsere aus ebenso sachlichen wie antinationalsozialistischen Erwägungen er- wachsenen Entschlüsse einfach sabotiert wurden [ ... 1; Beamte, deren Untragbarkeit wir feststellten, sitzen heute noch im Amt, während gleichzeitig tüchtige Antinationalsozialisten, die sich um Stellen bewarben, seitens des Oberbürgermeisters glatt abgewiesen wurden. Nach außen hin ist nichts sichtbar von einem klaren antinationalsozialistischen Kurs, wie ihn die Verhältnisse dringend fordern, und die Öffentlichkeit - in der die alten Nationalsozialisten immer frecher ihr Haupt erheben! -macht uns mit verantwortlich für Mißgriffe der Stadtverwaltung (z. B. Amtsbetreuung von Nationalsozialisten!), obwohl wir hierbei in keinerWeise beteiligt waren und sogar mit unseren Protesten nicht durchdringen konnten. Hiernach gibt es nur 2 Möglichkeiten: Entweder wir lösen unseren Ausschuß auf, kehren zu unserer häuslichen Arbeit zurück und überlassen das Stadtregiment ä la Führerprinzip der Kritik der Straße oder wir lassen uns formgerecht einschalten in das Stadtregiment nach den Gesetzen der Demokratie. Unser Verantwortungsbewußtsein läßt nur den letzteren Weg zu, weshalb wir ersuchen, uns als Stadtrat in das Stadtregiment einzubauen. Wird diese Forderung abgelehnt, so bleibt uns allerdings nichts anderes übrig, als den Ausschuß aufzulösen und aus jeglicher Verantwortung auszuscheiden. Wird sie angenommen, so sind wir gewillt, mit aller Kraft dafür einzutreten für einen Wiederaufbau unserer lieben Stadt Marburg.
Anmerkungen:
[44] Antrag des Staatspolitischen Ausschusses auf Einsetzung als Stadtrat, undatiert (August 1945). Bauer-Papiere. Es handelt sich bei diesem Dokument um einen nicht unterzeichneten, maschinengeschriebenen Durchschlag. Bauer selbst hat diesen Antrag nach eigenen Aussagen entworfen. Das gleiche Anliegen brachte er auch in einer Ausschußsitzung am 21. 8. 1945 vor. Vgl. Sitzungsprotokoll vom 21. 8. 1945, SPA- Akten, Magistratsarchiv Marburg. Vgl. auch GIMBEL, Eine deutsche Stadt, S. 135.
[45] Dies sieht der Verfasser recht einseitig. Zu den langfristig-konstruktiven Aufgaben des Ausschusses vgl. GIMBEL, Marburg nach dem Zusammenbruch, S. 8.
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