8. Judenordnungen Philipp des Großmütigen von Hessen
Seit dem 16. Jahrhundert bestand in den verschiedenen Reichsterritorien die Tendenz, die rechtlichen Beziehungen der Untertanen untereinander und zur Obrigkeit zu regeln. Dies geschah über die Erarbeitung von umfassenden Landesordnungen bzw. Polizeiordnungen, mit denen man das zersplitterte, mittelalterliche Recht vereinheitlichte. Diese Ordnungen hingen sehr eng mit der Konsolidierung der sich herausbildenden Territorialstaaten zusammen. Es ging dabei also um „die Herstellung einer einheitsstiftenden Ordnung zur Objektivierung des Willens oder die Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit der Herrschaftsausübung“ oder, anders gesagt, um eine normative Verfassung. Darin musste auch die Frage nach den Juden geregelt werden.
Die Juden galten zu dieser Zeit noch als Kammerknechte des Kaisers und unterstanden deswegen seinem direkten Schutz. Aber schon seit dem späten Mittelalter (14. und 15 Jh.) existierte die Praxis des Judenregals, das heißt die Übertragung der Judenrechte an Territorialherren. Die persönliche Schutzbeziehung wurde durch diese Praxis zunehmend zum Handelsobjekt. Das Judenregal wurde kommerzialisiert und zum Gegenstand politischer Verhandlungen oder zur Legitimation von Ausbeutungsmaßnahmen nutzbar gemacht, da man nur noch die Steuerkraft der Juden zur Aufbesserung der Staatseinnahmen instrumentalisierte. Allerdings verband sich die Praxis der Judenregale immer noch mit der Vorstellung der kaiserlichen Kammerknechtschaft, so dass man sich vor die Aufgabe gestellt sah, die Vielzahl von Einzelschutzbriefen, Privilegien und Statuten, die das Judenrecht bildeten, zu kodifizieren und zu vereinheitlichen. Darüber hinaus musste man das landesherrliche Judenregal sichern und für die Finanzverwaltung nutzbar machen. Das erforderte eine genaue Abgrenzung gegenüber den alten kaiserlichen Schutzrechten. Schließlich sah man sich im Rahmen der „guten Polizei“ dazu verpflichtet, die christlichen Untertanen sowohl in Sachen der Religion als auch in wirtschaftlichen Beziehungen vor der angeblichen Schädlichkeit der Juden zu schützen, so dass eine detaillierte Regelung erforderlich erschien.
Vor allem in protestantischen Territorien trugen die Herrscher und Obrigkeiten Sorge um das „geistliche Wohlergehen und den Lebenswandel der Untertanen und Bürger“. Zum einen versuchte man, die Juden, um ihres Seelenheils Willen, zu einem Übertritt zum Christentum zu bewegen. Zum anderen aber sollten sie in ihrer Religionsausübung beschränkt werden, damit die christliche Gesellschaft von ihnen nicht beeinflusst werden könnte und damit keine Übertritte zum Judentum stattfinden würden. Aus diesem Grund standen Bestimmungen zur Reinhaltung des christlichen Glaubens im Vordergrund der Judenordnungen.
Philipp der Großmutige von Hessen unterhielt eine keineswegs freundliche Beziehung zu den Juden in seinem Gebiet. Allerdings handelte es sich um eine humane Beziehung. Zwar verordnete er 1524, also relativ früh in seiner Regentschaft und noch bevor er sich der Reformation anschloss, dass keine Juden in seinem Territorium leben sollten. (Dokument Nr. 1 ) Dieser Verordnung wurde aber weder von den Juden noch von seinen Beamten Folge geleistet. Auch Philipp selbst drang nicht auf Erfüllung seiner Bestimmungen. Tatsache ist, dass im Jahre 1532 immer noch so viele Juden in Hessen lebten, dass er ein neues Mandat verabschiedete, in dem er eine Duldung der Juden in seiner Landgrafschaft für weitere sechs Jahre unter relativ einfachen Bedingungen gewährte (Dokument Nr. 2 ).
Als diese Frist 1538 abgelaufen war, nahm er die Frage nach der Duldung der Juden wieder auf. Die hessischen Geistlichen hatten schon 1532 Bedenken über die Duldung der Juden erhoben und diese wurden 1538 noch größer. Auch die landgräfliche Kanzlei befürwortete eine Ausweisung der Juden, zumal der Kurfürst von Sachsen Johann Friedrich schon zwei Jahre vorher, am 6. August 1536, den Juden die Ansiedlung in seinem Territorium und sogar die Durchreise durch sein Herrschaftsgebiet verboten hatte. (Siehe Dokument Nr. 9 im Ausstellungsraum über Luther )
Philipp wandte sich am 6. Juli 1538 an seinen Kanzler Feige und bat ihn darum, sich beim Straßburger Jakob Sturm zu erkundigen, wie man mit den Juden dort umginge. [1] Dieser leitete die Frage weiter an Martin Bucer, den Straßburger Reformator, der in Hessen zu dieser Zeit eine wichtige Rolle als Berater und Vermittler in der Täuferfrage und in der Abfassung der Ziegenhainer Zucht- und der Kasseler Kirchenordnung einnahm. Bucer verfasste infolge der Anfrage seinen Ratschlag, „ob Christlicher Oberkait gebüren müge, das sye die Juden vndter den Christen zu wonen gedulden, vnd wa sey zu gedulden, wölcher gstalt und maß“ (Dokument Nr. 3 ). Darin empfahl er dem Landgrafen den Juden eine Duldung zu gewähren. Allerdings sollte er ihnen solche Beschränkungen der religiösen und wirtschaftlichen Ausübung auferlegen, die es deutlich machen sollten, dass sie nicht das Haupt, das heißt die Übergeordneten unter den Untertanen und zwischen den beiden Religionen, sondern der Schwanz (=untergeordnet) seien.
Sein Gutachten legte Bucer einem Gremium von sechs führenden Vertretern der hessischen Geistlichkeit vor, die das Dokument mit ihren Unterschriften segneten und Anfang Dezember 1538 dem Landgrafen überreichten. Philipp Antwortete am 23. Dezember auf den Ratschlag in einem Brief. (Dokument Nr. 4 ) Darin vertrat er eine gegensätzliche Auffassung zu der der Gelehrten. Seiner Meinung nach stünde es nirgends in der Bibel, dass man die Juden diskriminiert halten solle. Vielmehr beklagte er, dass so eine Behandlung der Juden nicht human sei und dass es besser wäre, die Juden zu vertreiben als sie so zu behandeln. Er beabsichtige aber den Juden noch ein bis zwei Jahre einen Aufenthalt zu gewähren, bevor er entscheide, wie er weiter verhandeln wolle. Dem Schreiben fügte er einen Entwurf für eine Judenordnung hinzu, der begutachtet werden sollte. Darin waren im Grunde genommen die Bedingungen aufgelistet, unter denen den Juden die Duldung gewährleistet werden sollte. (Dokument Nr. 5 )
Den Juden in Hessen gelang es, sich sowohl das Gutachten Bucers als auch den Antwortbrief Philipps zu verschaffen. Sie veröffentlichten beide Dokumente, wobei der Brief Philipps als Widerlegung des Ratschlags diente. Gleichzeitig überreichten sie an Philipp den Großmutigen ihre Stellungnahme zum Entwurf der Judenordnung. Damit versuchten sie, ihren Standpunkt zu erläutern und den Landgrafen dazu zu bewegen, manche Artikel zu ändern. (Dokument Nr. 6 ).
Die um die Mitte des Jahres 1539 erlassene Judenordnung (Dokument Nr. 7 ) berücksichtigte dennoch die Wünsche der Juden nicht. Allerdings wurden auch Bucers Hauptforderungen nicht erfüllt. Auch ohne die Erfüllung dieser Forderungen blieb die Situation der Juden infolge der Ordnung schwer genug, zumal Bucer seinen Ratschlag zum Druck gab, nicht bevor er noch einen Brief an einen ungenannten Freund hinzutat, in dem er auf der einen Seite sein Gutachten verteidigte, auf der anderen gegen die Juden scharf polemisierte. In dieser neuen Situation wandten sich die hessischen Juden an Josel von Rosheim, der als Hauptfürsprecher der Juden im Reich galt, damit er ihnen Hilfe leistete. Josel verfasste daraufhin sein „Trostbüchlein“, in dem er die in Bucers Brief erhobenen Vorwürfe gegen die Juden entkräftete und den hessischen Juden Trost und Mut zum Aushalten aussprach. (Siehe den Ausstellungsraum über Josel von Rosheim ).
Die Judenordnung Philipps des Großmutigen gilt, zusammen mit der Ordnung des Kurfürsten Ludwigs V. von der Pfalz von 1515, als eine der ersten umfassenden judenrechtlichen Kodifikationen. Sie war auch der Ausgangpunkt aller späteren rechtlichen Regelungen in Hessen und nahm Einfluss auf deren Gestaltung. Und, obwohl man offensichtlich nicht an ihren Bestimmungen festhielt und diese nicht, wie vom Landgrafen und der Geistlichkeit erwartet, umsetzte, – so klagte Philipp 1543 und verschärfte infolgedessen manche Bestimmungen (Dokument Nr. 8 ) – war diese Judenordnung ein Grund für die Auswanderung vieler Juden aus Hessen. So erfährt man aus einem Edikt von 1545, das dann den Handel mit auswärtigen bzw. ausgewanderten Juden verbietet. (Dokument Nr. 9 )
Obwohl die hessische Judenordnung von 1539 nicht zu den restriktivsten Maßnahmen gehörte, die in diesen Jahren in anderen Territorien und Städten verabschiedet wurden, lässt sich in ihren Bestimmungen die allgemeine antijüdische Stimmung wiedererkennen, die aus Luthers späten Schriften anklang. Die Verschärfungen der Bestimmungen in den folgenden Jahren machen dies noch deutlicher. Nur die Rolle der Juden als Einnahmequelle blieb in den Augen des Herrschers unverändert, wie die Landtagsabschiede von 20. März 1557 (Dokument Nr. 10 ) und 29. Mai 1566 (Dokument Nr. 11 ) veranschaulichen.
Avraham Siluk
[1] Offensichtlich wusste Philipp nicht, dass sich schon 1388 die Juden aus der Stadt vertrieben wurden und dass seitdem kein Jude in der Stadt wohnen oder sogar übernachten durfte.
Literatur:
Friedrich Battenberg, Judenverordnungen in Hessen-Darmstadt, Wiesbaden 1987.
Martin Bucer, Schriften der Jahre 1538 – 1539, Hrsg. von Robert Stupperich, Gütersloh 1964.
Uta Löwenstein, Quellen zur Geschichte der Juden im Hessischen Staatsarchiv Marburg 1267-1600, Bd. 1, Wiesbaden 1989.
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