13. Deutsch-jüdische Geschichte zwischen Restauration, Revolution und Reichsgründung 1815-1869/71
Die Geschichte der deutschen Juden zwischen dem Wiener Kongress 1815 und der Gründung des deutschen Kaiserreiches 1871 ist eine ambivalente Zeit voller Fortschritte und Rückschläge.
In der Restaurationszeit nach der Neuordnung Europas auf dem Wiener Kongress, im Vormärz sowie in der Phase bis zur Reichsgründung 1871 war die jüdische Emanzipation stark an die Erfolge und die Durchsetzungskraft der liberalen Bewegung gebunden. Während der Restauration wurde in vielen deutschen Teilstaaten die von den französischen Besatzern eingeführte rechtliche Emanzipation der Juden wieder rückgängig gemacht. Die rechtliche Stellung der Juden blieb allerdings immer ein Anliegen des aufstrebenden liberalen Bürgertums, die in ihren politischen Forderungen auch immer wieder auf die Gleichstellung der Juden drangen. Die liberale Bewegung selbst war auch durch die Beteiligung jüdischer Bürger gekennzeichnet. So focht beispielsweise der jüdische Rechtsanwalt Gabriel Riesser in der Revolution von 1848 an der Seite von christlichen Liberalen für die Durchsetzung der politischen Vorstellungen des Liberalismus. Riesser kämpfte als Abgeordneter des Paulskirchenparlaments für die Aufnahme der Gleichstellung der verschiedenen Konfessionen in die neu zu schaffende Verfassung und konnte damit eine Mehrheit seiner Kollegen überzeugen. Riesser ist auf Grund seiner Biographie auch ein gutes Beispiel dafür, dass viele Juden im 19. Jahrhundert einen beachtlichen sozialen Aufstieg trotz widriger Umstände bewältigen konnten. Riesser wurde 1859 der erste jüdische Obergerichtsrat in Deutschland.
Allerdings sollen individuellen Erfolgsgeschichten nicht darüber hinwegtäuschen, dass weiterhin – wie die Beispiele der Abgeordneten Mohl und von Linde zeigen – viele Vorbehalte gegen die Juden im liberalen Bürgertum existierten. Denn das Eintreten vieler Liberaler für die Rechte der Juden bedeutete nicht die Auflösung aller Probleme des deutsch-jüdischen Zusammenlebens. Die Ideen des Liberalismus waren in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eng mit der Idee der Nation verbunden. Die enorme dynamische Kraft, die von der Nationsidee ausging, spornte viele Philosophen, Schriftsteller und Politiker an, über die Bedeutung, den Inhalt und die Grenzen der deutschen Nation nachzudenken. Diese Definitionsversuche grenzten nicht selten die Juden als inneren Feind der deutschen Nation aus, wogegen sich aufrichtige jüdische Nationale wie Gabriel Riesser wehrten, ohne jedoch eine Mehrheit überzeugen zu können. Die Nationsidee - vor allem im späteren Nationalismus - blieb bis in das 20. Jahrhundert immer ein Grundproblem der Integration der jüdischen Minderheit in die deutsche Gesellschaft.
Zudem waren die Juden trotz aller Gleichstellungsversuche im ganzen 19. Jahrhundert weiterhin eine ausgegrenzte Minderheit. Antijüdische Vorurteile waren sehr weit verbreitet. Vor allem in wirtschaftlichen Krisenzeiten zeigten sich nicht nur die breite Land- und Stadtbevölkerung immer wieder offen für antijüdisches Gedankengut und vereinzelt stattfindende gewaltsame antijüdische Aufstände (Auch die Revolutionszeit im Jahr 1848 war von antijüdischen Ausschreitungen begleitet). Auch einige der großen Intellektuellen jener Zeit waren von Vorurteilen gegenüber den Juden beinflusst. Als Beispiel soll hier Karl Marx herangezogen werden, der sich in seiner Schrift „Zur Judenfrage“ aus dem Jahr 1843 mit der Möglichkeit der jüdischen Emanzipation auseinandersetzt und dabei von festen jüdischen Verhaltensweisen ausgeht, die im Großen und Ganzen den zeitgenössischen Stereotypen entsprechen. Marx bringt die Juden somit in Verbindung mit den wirtschaftlichen Entwicklungen der Zeit, d.h. in seinem Fall mit der langsamen Durchsetzung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Da er diese Entwicklung auf Grund seiner geschichtsphilosophischen Überlegungen allerdings positiv bewertet, da er den Kapitalismus im Übergang zum Sozialismus als ein notwendiges Stadium der historischen Entwicklung begreift, wäre es verquer, Marx als einen großen Feind der Juden bezeichnen zu wollen.
Dennoch zeigt auch das Beispiel Karl Marx, wie weit Vorurteile gegenüber den Juden verbreitet waren. Es wundert daher nicht, dass mit dem Scheitern der Revolution 1848 auch die volle rechtliche Gleichstellung der Juden rückgängig gemacht wurde. Erst mit der Gründung des Norddeutschen Bundes konnte die Emanzipation der Juden rechtlich festgeschrieben werden. Dass die Juden damit jedoch gesellschaftlich noch lange nicht in ihrem Status als kulturelle Minderheit toleriert wurden, sollte der Aufstieg des modernen Antisemitismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zeigen, der alte Vorurteile aufnahm und sie in einen biologistischen Rassismus übersetzte, wodurch die Juden im Kaiserreich trotz rechtlicher Gleichstellung weiterhin eine stigmatisierte Gruppe blieben.
Im Folgenden werden nun nochmals die wechselhafte Geschichte der rechtlichen Gleichstellung der Juden in einem Teilstaat des Deutschen Bundes, dem Kurfürstentum Hessen, eingehender erläutert.
Die rechtliche Stellung der Juden in Kurhessen 1814-1866
Nach der Völkerschlacht bei Leipzig und dem damit zusammenhängenden Ende des Königreichs Westfalen kehrte Kurfürst Wilhelm I. nach Kassel zurück und setzte eine auf die landgräfliche bzw. kurhessische Gesetzgebung zurückgreifende umfassende Restaurationspolitik in Gang, die zahlreiche, vom westfälischen König Jérôme verabschiedete Reformen rückgängig machte. Wilhelm I., der habituell weiterhin einem absolutistischen Herrschaftsverständnis verhaftet blieb, war sehr bemüht, möglichst alle Spuren der aus seiner Sicht illegitimen westfälischen Gesetzgebung zu beseitigen. Dies betraf neben der Restauration vorrevolutionäre Verwaltungsstrukturen und Wirtschaftsordnungen auch die im Königreich Westfalen eingeführte rechtliche Gleichstellung der Juden, die durch eine Verordnung aus dem Jahr 1816 über „die Verhältnisse der jüdischen Glaubensgenossen als Staatsbürger“ zurückgenommen wurde. Sie hob die Gleichstellung der Juden wieder auf, da eine "nicht vorbereitete unbedingte Gleichstellung" der Juden "hinderlich" sein könne für das "Wohl" der jüdischen wie der nicht-jüdischen Bevölkerung (Präambel). Vor allem der Berufsgruppe der jüdischen Nothändler, worunter man in erster Linie Viehhändler und Geldverleiher verstand, wurde die Rechtsgleichheit entzogen.
Allerdings kann man von einer reinen Rückkehr zum status quo ante, das heißt zu den rein restriktiven Judenordnungen des 18. Jahrhunderts, nicht sprechen. Die Juden sind, abgesehen von den (zahlreichen) Ausnahmen der Verordnung, der übrigen Bevölkerung rechtlich gleichgestellt (§ 1). Hinter dieser ambivalenten Politik, die einerseits die Juden rechtlich gleichstellt, Teile der jüdischen Bevölkerung andererseits aber weiterhin zahlreichen Restriktionen unterwirft, steht eine bestimmte erzieherische Motivation, die auf die „Verbesserung“ der Juden durch Heranführung derselben an ein bürgerliches Leben abzielt. In Regierungskreisen war man der Ansicht, dass die Juden aus historischen Gründen in eine Situation geraten sind, die ihnen nicht erlaube, ein bürgerliches Leben zu führen.
In einem von Kurfürst Wilhelm in Auftrag gegebenen Gutachten von 1814, der sich mit der Frage beschäftigte, wie „die Juden bessere Menschen und nützliche Mitglieder des Staates“ werden könnten, konstatierten die Autoren, dass die Juden, „sichtlich verdorbener als andere Nationen“, charakterlich „mehr zu Wucher und Hintergehung“ neigend, in die Rolle von „Unglücklichen“ geraten seien, die „kein Vaterland haben“ und deren „Tätigkeit allenthalben beschränkt ist“ und „an deren Tugend nicht geglaubt wird, für die es fast keine Ehre gibt“. Die Juden seien nur deshalb als Mensch und Bürger so verderbt gewesen […]“, weil man ihnen die Bürgerrechte versagt habe. Um die Situation der Juden zu ändern, sei es Pflicht jeder Regierung, „die Mittel aufzufinden, die Juden zu besseren Menschen und nützlichen Bürgern zu bilden“.
Ziel der die Juden betreffenden Sondergesetzgebung des Kurfürsten war somit die gesetzlich herbeigeführte und auf das Individuum ausgerichtete Angleichung des jüdischen Lebens an bürgerliche Lebens- und Arbeitsformen, wobei dabei eine bestimmte Idee von „Bürgerlichkeit“ und „Bürgertum“ als normsetzendes Leitkriterium diente. In diesem Sinn sollte den Juden beispielsweise die Ausübung unbürgerlich geltende Berufe (Nothandel) erschwert und gleichzeitig Anreize gesetzt werden, die als erzieherisch wertvoll geltenden Tätigkeiten wie Handwerk oder Landwirtschaft zu ergreifen (§ 1,15-17). In dem bereits zitierten Bericht von 1814 heißt es dazu: „Die stillsitzende Lebensart und der ruhige Fleiß“ des Handwerkers sei „dem unruhigen Umherschweifen des handelnden Juden […] seiner Begierde nach Gewinn […]. Zugleich wird die harte Arbeit, die gröbere […] Nahrung des Handwerkers auch auf seine physische Konstitution einen vorteilhaften Einfluss haben.“
Diese Zielsetzung, die "Verbesserung“ der Juden durch Verbürgerlichung, wird auch in den Debatten des kurhessischen Landtags um das Gesetz „zur gleichförmigen Ordnung der besonderen Verhältnisse der Israeliten“ 1832 erkennbar, das nach Art. 29 der neuen kurhessischen Verfassung die Rechte der Juden regeln sollte, nachdem man sich bei der Ausarbeitung dieser Verfassung nicht zu einer vollen rechtlichen Gleichstellung der Juden durchringen konnte. In den Debatten zu diesem die Juden betreffenden Sondergesetz blieb die Mehrheit der Abgeordneten der Verbesserungsstrategie und der damit zusammenhängenden Einteilung der Juden in zwei Klassen verhaftet, den „Schacherjuden" und den "achtungswürdigen Juden", wodurch die seit 1816 bestehende Rechtsungleichheit fortgeschrieben wurde. Nach Aussage eines Abgeordneten war damit folgendes Strategie verbunden: Die „ausgezeichneten Juden", worunter man diejenigen Juden zählte, "die an Geist, Gemüt und Charakter ebenso vortrefflich seien als die vortrefflichsten unter den Christen", "müßten den Schacherern als Ideal hingestellt werden, es müßten für diese letzteren verschiedene Grade, an welchen stufenweise gewisse Rechte zu erwerben seien, bestimmt und alle durchlaufen werden, ehe sie den christlichen Staatsbürgern gleichgestellt würden.“ Das betreffende Gesetz von 1833 übernimmt dementsprechend weitestgehend die Bestimmungen von 1816.
Volle Rechtsgleichheit erreichten die Juden Hessen-Kassels erstmals im Gesetz zur Religionsfreiheit von 1848, das den Genuss der bürgerlichen Rechte erstmals seit der Restituierung Kurhessens 1814 nicht vom Glaubensbekenntnis abhängig machte. Allerdings wurde diese Regelung bereits in der Verfassung von 1852 wieder rückgängig gemacht, wodurch die Juden Kurhessens erst nach der Annexion des Kurfürstentums durch Preußen in einem Gesetz des Norddeutschen Bunde von 1869 voll gleichberechtigt wurden, ohne dass weiterhin eine bestimmte Berufsgruppe von der Gültigkeit der Bürgerrechte ausgeschlossen wurde.
Sebastian Haus
Literatur:
Brenner, Michael et. al: Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit. Emanzipation und Akkulturation 1780-1871, München 1996.
Kropat, Wolf-Arno: Die Emanzipation der Juden in Kurhessen und in Nassau im 19. Jahrhundert, in: Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen (Hg.): Neunhundert Jahre Geschichte der Juden in Hessen. Beiträge zum politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben, Wiesbaden 1983, S. 325-349.
Schimpf, Dorothee: Emanzipation und Bildungswesen der Juden im Kurfürstentum Hessen 1807-1866, Wiesbaden 1994.
Schwarz, Anke: Jüdische Gemeinden zwischen bürgerlicher Emanzipation und Obrigkeitsstaat. Studien über Anspruch und Wirklichkeit jüdischen Lebens in kurhessischen Kleinstädten im 19. Jahrhundert, Wiesbaden 2002.
Anfragen zu Reproduktionen in hoher Auflösung und druckfähige Vorlagen erhalten Sie von der unter Bestand/Sign. genannten Einrichtung.