18. Der "Berliner Antisemitismusstreit" (1879-1881) und der " Verein zur Abwehr des Antisemitismus" (VAA) (Bsp. Marburg 1891/92)
Ende der 1870er Jahre entwickelte sich in Berlin ausgehend von den Journalisten Wilhelm Marr und Otto Glagau, sowie dem protestantischen Hofprediger Adolf Stöcker eine neuartige politische Strömung, in deren Mittelpunkt die Bekämpfung des Judentums und die Rücknahme der seit 1869 rechtlich durchgesetzten Gleichberechtigung der Juden stand. Für diese Form der Judenfeindschaft bürgerte sich bald der Neologismus „Antisemitismus“ ein, der im Umfeld Glagaus auftauchte und im Unterschied zum traditionellen, meist religiös konnotierten Antijudaismus eine säkularisierte, biologistisch unterfütterte Gesellschaftsanalyse präsentierte, welche die Juden nicht mehr als religiöse Gemeinschaft, sondern in erster Linie als fremde Rasse mit wesenstypischen Eigenschaften definierte, die jedem Juden gleich welchem sozialen Umfeld Eigen seien. Eine solche jüdische Rasse assoziierte man mit den bedrohlichen und negativen Entwicklungen der Zeit. In den Juden glaubte man die zentralen Verursacher und Nutznießer der komplexen und krisenhaft verlaufenden Veränderungen der hereinbrechenden Moderne erkannt zu haben. In diesem Sinn verstand sich der Antisemitismus als Weltdeutung mit universeller Erklärungskraft. Er inszenierte sich sowohl als Ablehnung der Sozialdemokratie wie auch als Kritik am Liberalismus, dem dominierenden Gesellschaftsmodell der letzten Jahrzehnte. Innerhalb kürzester Zeit avancierte der Antisemitismus zu einem sehr wirkmächtigen Deutungsmodell der wirtschaftlichen Krise der 1870er und 1880er Jahre. Viele neue Parteien wie die 1878 von Stöcker gegründete „christlich-soziale Arbeiterpartei“ fundierten ihre Programmatik in erster Linie auf dem Antisemitismus. Angesprochen wurden zunächst vor allem jene gesellschaftlichen Schichten, die sich vom Wirtschaftsliberalismus der letzten Jahrzehnte benachteiligt fühlten – vor allem Bauern, Handwerker oder Kleinunternehmer.
Diese moderne Form der Judenfeindschaft beschränkte sich allerdings nicht nur auf die unteren Bevölkerungsschichten und das Kleinbürgertum. Auch in den intellektuellen, bildungsbürgerlichen Schichten fand der Antisemitismus Anklang. Viele studentische Verbindungen gaben sich antisemitische Satzungen. 1880 veröffentliche der damals sehr renommierte Berliner Historiker Heinrich von Treitschke, ein führender Intellektueller und Vertreter der nationalliberalen Partei, einen zeitdiagnostischen Aufsatz in den „Preußischen Jahrbüchern“ mit dem Titel „Unsere Aussichten“. Treitschke lieferte der antisemitischen Bewegung darin eine intellektuelle Rechtfertigung, indem er die „Judenfrage“, d.h. den Zuzug von Juden aus dem besonders „fremden polnischen Judenstamme“ Osteuropas und den mangelnden Assimilationswillen der deutschen Juden, zu einer nationalen Existenzfrage erhob, über die der Fortbestand der Einheit der deutschen Nation entschieden werde. Das Renommee Treitschkes sorgte dafür, dass seine Thesen über mehrere Monate hinweg im so genannten „Berliner Antisemitismusstreit“ auf das Heftigste diskutiert wurden. Letztendlich machten Treitschkes Sympathien für die antisemitische Bewegung den Antisemitismus auch in bürgerlichen Kreisen vertretbar, was zur Diffundierung der Judenfeindlichkeit in der reichsdeutschen Gesellschaft beitrug.
Treitschkes Artikel hatte eine eindeutig antiliberale Stoßrechnung. Man kann seine Thesen als Ausdruck der liberalen Zweifel am eigenen Geschichtsbild betrachten, als implizite Korrektur des egalitären, emanzipatorischen Fortschrittsoptimismus. In den Krisenjahren der 1870er Jahre, die die Fortschrittseuphorie des Wirtschaftsliberalismus zunichte machten und in einer Zeit, in der Bismarck seiner Politik durch die innenpolitische Wende von 1878/79 eine eindeutig konservative Ausrichtung gab, befand sich der Liberalismus in einer tiefen Legitimationskrise. Viele Liberale zeigten sich besorgt um die rasche Ausbreitung und Anerkennung, die die antisemitische Gesinnung in allen Gesellschaftskreisen fand. Sie deuteten den Antisemitismus als Angriff auf hehre liberale Prinzipien, betrachteten ihn zunächst allerdings noch als Überbleibsel einer dunklen rückständigen Zeit, womit dessen moderner Charakter und somit dessen Brisanz ein stückweit verkannt wurde. Ende der 1880er Jahre, drei Jahre nach dem mit Otto Böckel als erster Vertreter einer antisemitischen Partei in den Reichstag gewählt wurde, formierte sich im liberalen Bürgertum jedoch erster Widerstand gegen den Antisemitismus. Im Frühjahr 1890 gründeten eine Reihe liberaler Persönlichkeiten um Theodor Mommsen, Heinrich Mann und Hugo Preuß den „Verein zur Abwehr des Antisemitismus“ (VAA), dessen oberstes Ziel in der Zurückdrängung des Antisemitismus im Kaiserreich lag. Hauptwaffe in dieser Auseinandersetzung war das Zentralorgan des Vereins, „die Mitteilungen aus dem Verein zur Abwehr des Antisemitismus“, das zwischen 1891 und 1924 (ab 1925 weitergeführt als „Abwehrblätter“) einmal wöchentlich kritisch über die Aktivitäten der Antisemiten berichtete.
Der VAA verstand sich offiziell als überkonfessionelle Organisation, war aber in erster Linie humanistisch-protestantisch geprägt. Zwar gehörten auch einige Juden dem VAA an; diese traten jedoch nicht besonders in Erscheinung. Politisch richtete sich der VAA am Liberalismus aus, an Meinungs- und Gewissensfreiheit, rechtlicher wie politischer Gleichberechtigung unabhängig von der Konfession, sowie an der Idee der deutschen Nation. Vor allem letzteres Prinzip verschaffte der ideellen Ausrichtung des VAA jeodch mangelnde Kohärenz. Obwohl man den Juden rechtlich die volle Gleichstellung mit den nicht-jüdischen Bevölkerungsteilen ermöglichen wollte, erwartete man von ihnen ein völliges Aufgehen in der deutschen Nation, die man sich ausschließlich christlich vorstellen konnte. Bereitwillig akzeptierten die Mitglieder des VAA die Juden als Rechtssubjekte im Sinne von Staatsbürgern gleicher Rechte. Bei der Anerkennung der Juden als kulturelle Minorität, d.h. hinsichtlich der Toleranz der jüdischen Bräuche und Traditionen, tat sich der VAA jedoch schwer. Hier stand der VAA ganz in der Tradition der Aufklärung Christian Wilhelm von Dohms, der Ende des 18. Jahrhunderts ganz ähnliche Positionen vertrat.
In Bezug auf die Stellung der Juden in der deutschen Nation fand allerdings auch nie eine ausführliche Grundsatzdebatte im VAA statt. Einerseits stand dem offenen Eintreten für das Judentum die Angst entgegen, sich mit dem Vorwurf des Philosemitismus auseinandersetzen zu müssen. In einer in erster Linie über den Protestantismus definierten deutschen Kultur ein gefährlicher Vorwurf. Zum anderen waren die politischen Vorstellungen der Mitglieder zu heterogen, um eine gemeinsame Politik für die Juden, und nicht ausschließlich gegen die Feinde der Juden zu formulieren. Der einende Faktor des VAA blieb allein die Agitation gegen den Antisemitismus.
Die Auseinandersetzung mit den Judenfeinden suchte der VAA in erster Linie in der argumentativen Aufklärung antisemitischer Behauptungen. „Eine kranke geistige oder politische Richtung kann nur im Lichte wahrer Aufklärung und im Geiste der Wahrheit bekämpft werden“, schreiben die Mitteilungen am 15. Januar 1908 und bringen damit sehr prägnant die Vorgehensweise des VAA gegen den Antisemitismus auf den Punkt. Die Mitglieder des Abwehrvereins zeigten sich davon überzeugt, dass dem Antisemitismus der Boden entzogen werden könne, sofern man die Zielgruppen der antisemitischen Bewegungen über die Unwahrheiten der antisemitischen Propaganda informiere.
Dass diese Strategie allerdings nur sehr schwer durchzuhalten war, mussten die Mitglieder der Marburger Ortsgruppe des VAA am eigenen Leibe erfahren. Nach Gründung des VAA Marburg im Herbst 1891 stand die Bekämpfung Otto Böckels im Vordergrund, der 1887 als erster Antisemit in den Reichstag einziehen konnte. Böckel hatte seine politische Basis im Kreis Marburg. In verschiedenen Veranstaltungen und zahlreichen Presseartikeln überprüften die führenden Mitglieder des Marburger Vereins, Georg Winter und Edmund Max Stengel, die Böckelschen Aktivitäten genau auf politische Nützlichkeit und Wahrheitsgehalt. In den Diskussionsrunden, die der VAA Marburg organisierte (wie am 29. Oktober 1891 und am 24. Februar 1892), mussten die Winter und Stengel aber immer wieder feststellen, dass die Antisemiten an einer sachlichen Auseinandersetzung nur wenig interessiert waren.
Die Aktivitäten des VAA Marburg beschränkten sich daher auch nicht nur auf die Organisation von Informationsveranstaltungen. In einer langen 18-teiligen Artikelserie „Der Antisemitismus in Kurhessen und seine Bekämpfung“ informierte Georg Winter die Leser der Mitteilungen regelmäßig über die Böckel-Bewegung und erarbeitete Strategien, wie der Landbevölkerung aus der wirtschaftlichen Krise geholfen werden könne, ohne der Fremdenfeindlichkeit der Antisemiten folgen zu müssen. Dabei anerkannte Winter die von den Antisemiten politisierte Problemsituation, in der sich die Bauern Kurhessens befanden. Diese lasse sich aber nicht durch Polemiken gegen die Juden lösen. So schade man nur der Einheit der Nation.
Um die Agitation Böckels nicht nur publizistisch, sondern auch praktisch zu bekämpfen, eröffnete der VAA Marburg im Februar 1892 ein Rechtshilfebüro in der Wettergasse, das Hilfe in rechtlichen und landwirtschaftlichen Angelegenheiten anbot – eine Gegengründung zu den Tätigkeiten des Böckelschen antisemitischen Mitteldeutschen Bauernvereins, der ebenfalls Hilfe in landwirtschaftlichen und Rechtsragen versprach. Auf diese Weise versuchte man die Bauern in ihrer Krisensituation zu unterstützen um die Attraktivität der Böckel-Bewegung zu verringern.
Inwieweit die Tätigkeit des VAA Marburg von Erfolg gekrönt war, lässt sich nur schwer beurteilen. Zwar verlor Otto Böckel nach 1893 nach und nach an Rückhalt unter den eigenen Anhängern und Wählern. Der Antisemitismus blieb aber auch nach seinem Niedergang virulent und wurde immer wieder politisch instrumentalisiert. Zudem verebbten die Aktivitäten des VAA Marburg, nachdem dessen engagiertester Vertreter, Georg Winter, nach Magdeburg versetzt wurde. Seine Artikelserie über den kurhessischen Antisemitismus endete im September 1892.
Trotzdem darf man den Einfluss des VAA auf die Meinungsbildung im Kreis Marburg nicht zu gering schätzen. Der Abwehrverein setzte vor allem in den Jahren 1891 und 1892, das heißt in der Hochphase der Böckel-Bewegung, dem Antisemitismus in Kurhessen entscheidenden Widerstand entgegen, den auch Böckel nicht ignorieren konnte. Der antisemitischen Argumentation wurde durch die publizistische Tätigkeit Winters und die Veranstaltungen des VAA die Selbstverständlichkeit genommen.
Sebastian Haus
Literatur:
Hoffmann, Christhard: Geschichte und Ideologie. Berliner Antisemitismusstreit 1879/81, in: Benz, Wolfgang/Bergmann, Werner (Hg.): Vorurteil und Völkermord. Entwicklungslinien des Antisemitismus, Freiburg 1997, S. 219-251.
Mehnert, Gottfried: Der Verein zur Abwehr des Antisemitismus in Marburg 1891/92, in: ZHG 108 (2003), S. 215-230.
Zeiß-Horbach, Auguste: Der Verein zur Abwehr des Antisemitismus. Zum Verhältnis von Protestantismus und Judentum im Kaiserreich und Weimarer Republik, Leipzig 2008.
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