17. Die Böckel-Bewegung. Antisemitismus zwischen Rassismus, Sozialprotest und Modernekritik
Die Integration des Kurfürstentums Hessen in das Königreich Preußen nach dem deutsch-deutschen Krieg 1866 läutete in der kurhessischen Wirtschaft umfassende Veränderungen ein, die die Lebensbedingungen der weitgehend agrarisch geprägten hessischen Bevölkerung nachhaltig verändern sollten. Durch die Einführung einer liberal-kapitalistischen Wirtschaft und die Anbindung an die neu entstehenden Eisenbahnnetze wurde die hessische Landwirtschaft in den nationalen Markt integriert und brachte diese darüber hinaus in Konkurrenz zur ausländischen landwirtschaftlichen Produktion. Neue Steuern des preußischen Staates drückten zudem auf die Einkommen der kurhessischen Bauern.
Nach der Wachstumsboom der 1860er Jahre, in der die gesamte deutsche Wirtschaft inklusive der Landwirtschaft in atemberaubenden Tempo expandiert war, verschlechterten sich die ökonomischen Bedingungen der hessischen Landbevölkerung nachhaltig infolge der wirtschaftlichen Krisen der 1870er und 1880er Jahre. Der so genannte „Gründerkrach“ 1873, der die Wirtschaft des Kaiserreichs in eine große Krise stürzte, bewirkte zusammen mit der anhaltenden Konkurrenz zu billigen Getreideimporten aus Russland und den USA einen starken Rückgang der Getreidepreise. Unter diesem Preisverfall litten vor allem viele Kleinbauern Hessens, die mangels ökonomischer Alternativen starke Einkommensverluste hinnehmen mussten und teilweise in die Armut abglitten. Notwendige Rationalisierungen der landwirtschaftlichen Produktion zur Aufrechterhaltung der Konkurrenzfähigkeit wurden dadurch nur erschwert. Viele Bauern konnten ihren Lebensunterhalt aus eigener Kraft nicht mehr bestreiten und mussten sich verschulden um die wirtschaftliche Misere überstehen zu können.
In dieser ökonomischen Krisensituation, die bis in die 1880er Jahre anhielt, wuchs die Angst vor sozialem Abstieg. Der wachsende Unmut richtete sich zunächst sehr diffus und unspezifisch gegen alle Erscheinungsformen der modernen Wirtschaft und Gesellschaft, das heißt unter anderem gegen die kapitalistische Marktwirtschaft und den Steuer- und Rechtsstaat. Zu einer der wirkmächtigsten Projektionsflächen des bäuerlichen Unbehagens gegenüber den genannten Modernisierungsprozessen avancierte der - tatsächliche oder imaginierte - „Wucher“ mit Kredit- oder Sachanleihen, die viele, teils hoch verschuldete Bauern als die zentrale Ursache ihrer Krisensituation betrachteten. Den Getreide-, Vieh- und Kredithändlern wurde vorgeworfen, sich mittels unehrlicher Verkaufsstrategien auf Kosten der armen Landbevölkerung über die Maßen zu bereichern. Ob dieser Vorwurf zutraf oder nicht spielt in der retrospektiven Betrachtung eine eher geringere Rolle, wenn man sich vergegenwärtigt, dass in der breiten zeitgenössischen Wahrnehmung das Wucherproblem das zentrale sinnstiftende Erklärungsmuster für die schwierigen wirtschaftlichen Umstände lieferte. Dass der „Wucher“ ein Grundproblem der Zeit darstellte, war ein schichtübergreifender Konsens, so dass viele Hessen sich von einem Vorgehen gegen den Wucher eine Verbesserung ihrer Lebenssituation erhofften. Somit war die Wucherdebatte kein Reflex auf tatsächliche Wucherei, sondern eher Folge des Zusammenpralls zweier Wirtschaftsweisen: zwischen dem sich durchsetzenden, kreditbasierten Kapitalismus und dem in vorkapitalistischen Denkmustern verharrenden Wirtschaften der damaligen hessischen Bauern. Dabei war die weitverbreitete Kritik am Wucher schon vor Böckel meist antisemitisch aufgeladen, da Juden überproportional häufig im Handel und Bankgewerbe arbeiteten und darüber hinaus generell eine derjenigen Bevölkerungsgruppen waren, die auf Grund günstiger soziostruktureller Vorrausetzungen wie hoher beruflicher Mobilität oder großem Bildungsstreben vom wirtschaftlichen Wandel profitieren konnten.
Der generelle Unmut der Bauern über die wirtschaftlichen Veränderungen wurde zunächst allerdings politisch nicht kanalisiert. Es gab bis Ende der 1880er Jahre keine tatsächliche, parteiliche oder genossenschaftliche Interessensvertretung der hessischen Bauern. Der Bezirk Marburg-Frankenberg-Kirchhain, der spätere Wahlkreis Otto Böckels, wurde durch die Konservativen dominiert, die in Form von informellen Wahlvereinen oder Honoratiorenverbänden organisiert waren und nicht parteilich im modernen Wortsinn. Im Vorfeld von Wahlen traten die Kandidaten traditionell nur sehr distanziert mit der Wählerschaft in Kontakt. Die Interessen, Sorgen und Nöte der bäuerlichen Bevölkerung in Marburger Raum wurden deshalb nur bedingt auf nationaler Ebene vertreten. In dieses politische Vakuum stieß ab Mitte der 1880er Jahre der Marburger Bibliothekar Otto Böckel und seine antisemitische Bewegung.
Otto Böckel, geboren 1859 in Frankfurt/Main als Sohn eines Bauunternehmers, studierte ab 1878 zunächst Jura in Marburg und Leipzig, später Germanistik und Neuere Sprachen in Gießen. 1883 nahm er eine Stelle als Hilfsbibliothekar an der Universitätsbibliothek Marburg an. Seine frühesten Veröffentlichungen beschäftigten sich vor allem mit volkstümlichen Studien zu Volksdichtungen, Volksgesängen und Volkssagen im hessischen Raum. Das Volkslied sei nach Böckel ein besonderer Zugang zum „Gefühlsleben der Naturvölker, d.h. aller derjenigen Stämme, die der Kultur noch ferne stehen und im unmittelbaren Zusammenhange mit der Natur leben.“ Diese Suche nach dem weit zurückliegenden, reinen und unschuldigen Leben der Menschen in völligem Einklang und Gleichschritt mit der Natur ist in Böckels Büchern zur Volksdichtung eng verbunden mit einer Kritik an der seinerzeit einbrechenden Moderne. In seiner Liedersammlung „Deutsche Volkslieder aus Oberhessen“ schreibt Böckel im Vorwort: „Tief drin in den Gebirgen, wo die Dampfpfeife der Eisenbahnen noch nicht ertönt […], wo noch Treue und Ehrlichkeit, wo noch Wohlhabenheit und strenge Sittlichkeit unter dem Bauernstande wohnt, da leben Volkslieder […] noch immer bei dem Landmanne.“ Die hier durchklingende sozialromantische Sehnsucht nach dem vormodernen, harmonischen Landlebens des Bauern, drückt ein damals weitverbreitetes Unbehagen gegenüber den hochkomplexen Veränderungsprozessen der hereinziehenden industriegesellschaftlichen Moderne aus, die die traditionellen bäuerlichen Lebensstile durch den Zwang zur Lohnarbeit oder zur beruflichen Mobilität unter großen Veränderungs- und Rationalisierungsdruck stellten und die Bauern somit aus ihren gewohnten lebensweltlichen Zusammenhängen rissen. Böckel formuliert diesen Ängste vor Veränderung und Entwurzelung wie folgt: „Überall da, wo Eisenbahnen entstehen, wo Fabriken emporblühn, wo der Bauer den Anbau seiner Äcker vernachlässigt und, höheren Gewinns wegen, zur Fabrikarbeit herabsteigt; überall da, wo der Viehhandel und Fruchthandel zum Monopol des Juden geworden ist, wo die Sucht zur Auswanderung einreißt, wo die Güterausschlachtung im großen Stile betrieben wird […]; überall da sterben Volkssitte und Volkslied unmittelbar dahin.“
Wie dieses letzte Zitat schon andeutet, ist die Kritik an Industrialisierung und Moderne mit einem stark antisemitischen Moment verbunden. Dass dieser Aspekt keine Erfindung der Böckelschen Gedankenwelt ist, wurde oben schon angedeutet. Jedoch war Böckel einer der ersten im deutschen Kaiserreich, die den Antisemitismus zum politischen Programm erhoben und ihn in Wahlkämpfen propagandistisch einsetzten. Der Antisemitismus wurde zu einem sinnstiftenden Element der Böckelschen Protestbewegung, indem er die verschiedenen Aspekte des bäuerlichen Sozialprotestes, die Kritik an Wucher und Überschuldung, an Marktwirtschaft und an den politischen Eliten, miteinander verband und der Protestbewegung somit einen identitätsstiftenden Kohärenzfaktor verlieh.
Böckel trat erstmals Mitte der 1880er Jahre auf die politische Bühne. Mit verschiedenen Artikeln in antisemitischen Politblättern wie der „Wucherpille“ oder dem „Reichsgeldmonopol“ machte er sich im regionalen Rahmen schnell einen Namen. 1887 trat er schließlich zur Reichstagswahl an und forderte den amtierenden Reichstagsabgeordneten, den Konservativen Karl Grimm, im Wahlkreis Marburg-Frankenberg-Kirchhain heraus. Böckel führte einen sehr unüblichen Wahlkampf. Er reiste schon Monate vor der Wahl von Dorf zu Dorf, hielt zahlreiche Reden, organisierte Veranstaltungen und verteilte zahlreiche politische Flugschriften und anderes Werbematerial. Mit diesem sehr volksnahen und modern geführten Wahlkampf besiegte Böckel den konservativen Gegenkandidaten mit 56,6 % der Stimmen relativ deutlich. In den folgenden Jahren konnte Böckel seine Stellung weiter festigen. Er gründete Mitte 1887 eine eigene Zeitung, den „Reichsherold" mit angebundenem Verlag, 1889 eine eigene Partei, die „Antisemitische Volkspartei“, die 1891 in „Antisemitische Reformpartei“ umbenannt wurde, sowie 1890 einen bäuerlichen Interessenverband, den antisemitischen „Mitteldeutschen Bauernverein“, dessen Vorsitzender er wurde. Dieses Netzwerk an Organisationen war stark auf seine Person zugeschnitten, institutionalisierte den Kontakt mit den Wählern und sicherte ihm somit die dreimalige Wiederwahl 1890 , 1893 und 1898 .
Betrachtet man sich die Überlieferungen aus jener Zeit, die dem Staatsarchiv Marburg im Nachlass Böckels vorliegen, so werden die Besonderheiten des politischen Antisemitismus der Böckel Bewegung sehr gut deutlich. Letztlich oszillierte Böckels antisemitisches Politikprogramm zwischen drei diskursiven Elementen: zwischen einem anti-elitären, bäuerliche Interessen ansprechenden Sozialprotest, einer Kritik an den zeitgenössischen Modernisierungsprozessen und einer säkularisierten, rassistischen, mit nationalistischen Tönen vermischten Judenfeindlichkeit, die vielen Bauern eine simplifizierende und personifizierende Erklärung ihrer - anonymen Strukturveränderungen entspringenden - Krisensituation anbieten konnte.
In vielen von Böckel verfassten oder verteilten Broschüren nimmt der rassistische Antisemitismus eine sehr prominente Stellung ein. In seinen bekanntesten Schriften, „Die Quintessenz der Judenfrage“ und „Die Juden, die Könige unserer Zeit“ (letztere erreichte eine Gesamtauflage von ca. 1,5 Millionen Exemplaren), hielt er immer wieder zentral fest, dass die „Judenfrage“ von existentieller Bedeutung für das deutsche Volk sei, da sich die Juden nicht konstruktiv am Zusammenleben der Deutschen beteiligen, sondern in ihrem Denken und Handeln kollektiv auf die Verarmung und Zerstörung des deutschen Bauernstandes hinwirken würden. Nach Böckel sei die 1869 gesetzlich eingeführte Emanzipation der Juden zum Scheitern verurteilt, da die Befürworter der Emanzipation nicht berücksichtigten, dass die „Judenfrage“ keine religiöse Angelegenheit sei, sondern eine „Rassenfrage“. Böckel verstand Emanzipation also nicht als eine durch den Staat zu gewährleistende Rechts- und Chancengleichheit, sondern als ein „völliges Aufgehen“ der fremden Rasse „im fremden Staatskörper“ (Quintessenz, S. 3). Emanzipation in diesem Sinn ist ein einseitiger Prozess der Homogenisierung, in dem jüdische Besonderheiten durch die Angleichung an die normsetzende deutsche Volkskultur überwunden werden müssen. Dieser Prozess müsse nach Böckel aber zwangsläufig scheitern, da die Juden aufgrund ihrer Fremdartigkeit zum Deutschsein nicht befähigt seien, „weil sie vor wie nach trotz Emanzipation sich nicht von ihrem Hange zum Schachern emanzipiert und zur Arbeit gegriffen haben“ (Quintessenz, S. 3). Das sei durch die Tatsache zu erklären, dass die Juden eine fremde Rasse sind: „Der Schlüssel zur Judenfrage liegt in dem Umstand, daß die Juden eine fremde Race sind, die anders denkt, anders fühlt, anders handelt, als wir […]. Völker und Staatsmänner, die nicht mit den in der Natur begründeten Raceverhältnissen rechneten, gingen an diesem Mißverständniß zu Grunde. Ein solches Missverständnis war die Judenemanzipation. Man glaubte stillschweigend annehmen zu können, daß ein Jude ein Deutscher sei oder werden könne“ (Könige ihrer Zeit, S. 9). Die Juden müsse man deshalb, so fordert Böckel weiter, einer Fremdgesetzgebung unterstellen und die Judenfrage mit folgender Formulierung in die Verfassung aufnehmen: „Es gibt in Deutschland zwei verschiedene Nationen: Deutsche und Juden; erstere sind die Herren des Landes, letztere sind Gäste, die zwar das Gastrecht, niemals aber das Recht der Herren besitzen dürfen“ (Könige ihrer Zeit, S. 3). Geschehe dies nicht, und könne man dem zerstörerischen Treiben der Juden keinen Einhalt gebieten, so drohe der Untergang des deutschen Bauernstandes, des Grundpfeiler s"eines gesunden Staatswesens“ (Könige ihrer Zeit, S. 6). Dass erste Anzeichen dieses Untergangs schon zu erkennen sind, versucht Böckel mit Hilfe statistischen Materials auszuführen. Demnach sei die jüdische Gefahr allgegenwärtig. Auf der nationalen Ebene gehe eine besondere Gefahr von der jüdischen Presse und dem „Börsenjuden“ aus, die danach strebten, ganze Völker zu unterjochen: „Man klagt über die schlechten Zeiten, über die Stockung der Geschäfte; wer anders trägt die Schuld daran, als die Juden, in deren Händen das Besitzthum von tausenden deutscher Kleinkapitalisten durch die Börse aufgestaut worden ist? Deutschland leidet an Herzverfettung. Die Juden haben das Geld, das Blut des sozialen Körpers in ihren Händen und es ist nur zu natürlich, daß Stillstand und Verwesung in allen Theilen des sozialen Körpers eintritt“ (Quintessenz, S. 18). Zudem treibe auf regionaler Ebene der sogenannte „Landjude“ - „faul“ und „parasitär“, von Natur aus nicht zur ehrlichen produktiven Arbeit der deutschen Bauern neigend - die unschuldigen Landwirte mittels Wucher, Kredit- und Hypothekenschwindel in den Ruin.
Dieses Niedergangsnarrativ, das den deutschen Bauern infolge jüdisch-kapitalistischer Ausbeutung und „Güterschlächterei“ in einer existenziellen Notlage wähnt, taucht auch immer wieder in antisemitischen Gedichten, Bildergeschichten und Karikaturen der Zeit auf (vgl. "Vaterlandsklänge" , "Die Bauernwürger" und das "Skizzenbuch der Wahrheit" ). Die elementare Botschaft ist dabei immer dieselbe: Für die Bauern liege im jüdischen Wucher die größte Gefahr, da dadurch „der ehrliche, arbeitende Bauernstand fortwährend von einer Rasse fremder Schacherer ausgebeutet […] wird. Der deutsche Bauer ist ehrlich und arbeitsam, der Jude verschmitzt und faul“ (Quintessenz, S. 6). Wer also etwas gegen Juden unternehme, der beseitige den Wucher und damit die zentralen Gründe für die ökonomischen Schwierigkeiten der Bauern. Christlicher Wucher, ein Mangel an ökonomischer Flexibilität oder an Kenntnissen über die kapitalistische Wirtschaftsweise seitens der hessischen Bauernschicht wurden nicht thematisiert. Der Bauer war in Böckels Argumentation ein wohlmeinendes und unschuldiges Opfer jüdischer Ausbeutung.
Diese stark vereinfachte Weltsicht schien der bäuerlichen Bevölkerung in Hessen sinnhafte und entlastende Interpretamente zum Verständnis ihrer komplexen ökonomischen Krisensituation zu liefern. Die Personifizierung der krisenhaften Entwicklungen in den Juden lenkte ab vom Modernisierungs- und Anpassungsdruck, der auf der deutschen Landwirtschaft jener Jahre lastete. Böckel war auf diese Weise im Stande, das Potential an unzufriedenen Wählern im Wahlkreis Marburg politisch zu mobilisieren. 1887 gaben ihm 7411 von 13105 Wahlberechtigten, die an der Wahl teilnahmen, ihre Stimme; 1890, auf dem Höhepunkt seiner Karriere, erhielt Böckel gar 8739 von 13507 Stimmen.
Allerdings würde man die Böckel-Bewegung missverstehen, wenn man sie nur auf ihre antisemitische Agitation beschränken würde. Wie eben ausgeführt, war der Antisemitismus Böckels eng verflochten mit einer Kritik am Kapitalismus, was auf zwei weitere Dimensionen seines Denkens und Handelns verweist, die Modernekritik und den Sozialprotest. Unterstützt durch seine Partei, dem dazugehörigen Publikationsorgan, dem „Reichsherold“, und dem mitteldeutschen Bauernverein versuchte Böckel auch mit verschiedenen Selbsthilfeinitiativen die Not der Bauern unmittelbar zu lindern. So organisierte der Mitteldeutsche Bauernverein rechtliche Beratungsstellen für Bauern, organisierte Infoveranstaltungen zu Fragen der Landwirtschaft und ermutigte zur Gründung von örtlichen Produktions-, Kredit- und Konsumgenossenschaften nach dem Vorbild der Raiffeisenvereinigungen in Westfalen, um die Abhängigkeit von fremdem Kapital und Zwischenhandel zu verringern. Nach diesem Prinzip sollten sich die Bauern solidarisieren und gemeinsam die Auswüchse der wirtschaftlichen Misere bekämpfen, indem sie sich beispielsweise gegenseitig Geld liehen. Ein „judenfreier Viehmarkt“ 1890 in Langgöns sollte den „jüdischen Wucher“ umgehen und Bauern ohne die Vermittlung von Zwischenhändlern zusammenführen. Im Reichstag setzte sich Böckel Anfang der 1890er Jahre in den Debatten um eine Novellierung des Antiwuchergesetzes für härtere Strafen und eine Umgestaltung der Strafrechtssprechung ein. Nicht an der Einzelfallgerechtigkeit orientierte, professionell ausgebildete Strafrichter, sondern aus der Bevölkerung zusammengestellte Schwurgerichte sollten den Wucher der Volksgerechtigkeit unterziehen: „[…] der Wucher ist ein Verbrechen das gegen die Volksmeinung sich vergeht und gegen die Volksanschauung […]. Die Volksmeinung ist der einzige berufene Richter über das Vergehen des Wuchers“.
Diese Politik Böckels blieb immer anti-elitär bzw. anti-konservativ ausgerichtet. Darin drückt sich zum einen der Sozialprotest Böckels aus, da er vor allem den Konservativen vorwarf, nicht die Sache der Wahlbevölkerung zu vertreten: „Unser Parlamentarismus schmachtet unter dem Druck der politischen, abgelebten Parteien. Konservativ, liberal, ultramontan, freisinnig – alle diese Parteischlagwörter müssen fallen; der nationale Gedanke muß weiter lebendig werden im Volke, die Wahl in Marburg, wo der Antisemit durch eigene Kraft sämmtliche [sic] Parteien geschlagen hat, ist in diesem Sinne epochenmachend“ (Quintessenz, S. 21). Zum anderen hatte Böckels umfassende Gesellschafts- und Parteienkritik pragmatische Gründe. Seine größten politischen Konkurrenten im Marburger Wahlkreis waren konservativ. Darüber hinaus waren Teile der intern sehr zerstrittenen hessischen Antisemiten, wie die deutsch-soziale Partei Max Liebermanns von Sonnenberg, dazu bereit, mit den Konservativen zusammenzuarbeiten, was Böckel nicht unterstützen konnte, da er von einer unabhängigen, aus dem Volk hervorgehenden antisemitischen Mittelstandspartei träumte: „Von rechts bis links, nirgends ist eine Partei, die wir als wahre Volks- und Mittelstandspartei begrüßen könnten. Alle Parteien haben ihre Hintergedanken und ihre egoistischen Zwecke. Darum immer hinweg mit ihnen!“ (Quintessenz, S. 23).
Böckels unabhängiges, stark auf seine Person zugeschnittenes Vorgehen war bis Mitte der 1890er Jahre sehr erfolgreich. Er besetzte durch eine volksnahe, klar an bäuerlichen Interessen ausgerichtete Politik ein politisches Vakuum im Raum Marburg. Das kulturpessimistische Programm schien den Unmut vieler hessischer Wähler anzusprechen und gab diesem erstmals eine konkrete politische Repräsentation.
Dieselben Gründe allerdings, die diesen Erfolg Böckels möglich machten, führten letztlich auch zu seinem Niedergang. Neben persönlichen Ursachen wie Böckels mangelnde Flexibilität und starre Ausrichtung seiner Organisationen auf ihn selbst, trugen eine Reihe von überindividuellen Gründen dazu bei, dass sich die Wähler schon bei der Wahl 1893, bei der Böckel in die Stichwahl musste, spätestens aber gegen Ende der 1890er Jahre von ihm abwandten. So begannen beispielsweise die Konservativen Böckels neuen Wahlkampfstil zu adaptieren, sie inkorporierten antisemitische Elemente in ihr politische Programm (Tivoli-Parteitag 1892) und konnten angesichts einer starken nationalen Partei im Rückhalt effizienter vorgehen als die allein auf Böckel zugeschnittene Antisemitische Reformpartei. Die ebenfalls antisemitische, aber weniger sozialreformerisch ausgerichtete Deutsch-Soziale Partei Max Liebermanns erzielte beachtliche Erfolge in Oberhessen und verhinderte so die Ausdehnung der Böckel-Bewegung gen Süden. Des Weiteren konnte Böckels Mitteldeutscher Bauernverein unter seiner Führung trotz großem Mitgliederzulauf kaum handfeste Erfolge aufweisen und bekam durch zahlreiche nicht dezidiert antisemitische Genossenschaftsverbände wie die Raiffeisenkooperationen erhebliche Konkurrenz. Die antisemitischen Genossenschaften gerieten so erheblich unter Druck, gingen Bankrott oder fusionierten mit Raiffeisengenossenschaften. Existierten 1887 noch keine einzige Raiffeisengenossenschaft in Böckels Wahlkreis, so waren es 1895 schon 27. In dieser Situation und nach internen Streitigkeiten um die antisemitische Ausrichtung des Bauernvereins wurde Böckel 1893 gezwungen, seinen Vorsitz niederzulegen. Der Bauernverein ging kurz darauf im konservativen „Bund der Landwirte“ auf. Der Böckelschen Agitation wurde somit nach und nach der Boden entzogen, da das Raiffeisennetz die Böckelschen Protestwähler wirkungsvoll bei der Anpassung an den wirtschaftlichen Wandel unterstützen konnte. Das Vakuum, das er zwischen 1887 und 1893 besetzt hielt, wurde immer umkämpfter, und letztlich konnte sich Böckels Programm nicht auf Dauer durchsetzen. Er büßte den politischen Rückhalt in seinem Unterstützerkreis ein, trat bei den Wahlen 1903 und 1907 aus finanziellen Gründen nicht an und verlor die Wahl 1912 gegen einen Kandidaten der Deutsch-Sozialen Partei mehr als deutlich.
Sebastian Haus
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