"Sehr geehrter Herr Abgeordneter,
[…]Hinsichtlich der Bekämpfung Böckels im hiesigen Wahlkreis hatte ich vor falls ich gewählt wäre persönlich mit Ihnen Rücksprache zu nehmen. Ich dachte, gerade in meiner Eigenschaft als Reichstags-Abgeordneter, die Bewegung gegen ihn am leichtesten organisiren zu können. Zunächst würde ich die Verbreitung der kleinen freisinnigen Wochenblätter für rathsam halten und [?] rechne ich dafür auf die Unterstützung der Elementar-Lehrer, mit denen ich Fühlung habe durch sie würde ich geeignete Adressen, an welche die Zeitung zu versenden wäre, ermitteln, und ebenso später erfahren, wo dieselben auf fruchtbaren Boden gefallen wären. [Einfügung am Rand:] Gleichzeitig würde ich versuchen müssen das eine der beiden hier bestehenden gleich jammervollen Presseorgane in die Hand zu bekommen, sei es ein eigenes zu schaffen. Im letzteren Falle würde ich mich mit Parteigenossen in Rauschenberg u. Biedenkopf wegen Unterstützung verständigen.
Erst nachdem so im stillen eine Bewegung vorbereitet, würde ich dann eine Sammlung der Kräfte durch Gründung eines freisinnigen Vereins für opportun halten als dessen Aufgabe würde in erster Linie die Bekämpfung Böckels hinzustellen sein, wodurch eine Reihe Furchtsamer für uns gewonnen werden würde. Ehe ich jedoch diese mühsame Arbeit in Angriff nehme, müsste ich sicher sein, dass mir für die Durchführung derselben hinreichende Mittel zur Verfügung gestellt werden.
[Einfügung am Rand:] denn ich würde bezahlte Kräfte annehmen um die Arbeit zu bewältigen und könnte auch die Unkosten welche mir persönlich erwachsen würden nicht auf mich nehmen zumal wenigstens eine Zeitlang meine ganze Kraft nötig sein würde, um etwas zu Stande zu bringen.
Auch wären die Juden von vornherein streng anzuweisen, selbstständig nichts zu thun und sich überhaupt jeder eigentlichen Agitation zu enthalten: denn das was sie bisher gethan haben, hat Böckel unendlich genützt. So das anonyme Whalflugblatt, hier und in Giessen, und noch kürzlich wieder ein Artikel im hiesigen Annoncenblatt. Die Pläne, welche ich eben entwickelt habe, sind noch mit Niemand durchgeprochen, reflektiren also nur meine persönlichen Ansichten; falls ich eines besseren belehrt werde, bin ich natürlich auch gern bereits anders zu verfahren. Ein Leidwesen ist, dass zunächst wenigstens so ziemlich die ganze Thätigkeit von mir ausgehen müsste. Nur Herr Bäckermeister Schott, Herr Landwirt Grebe und einige Herren in Rauschenberg würden mich unterstützen, unter meinen Collegen von der Univ. kann ich wirksame Hilfe von keinem erwarten, ebenso wenig aus den Kreisen der übrigen Bürgerschaft. Im April hoffe ich jedenfalls nach Berlin zu kommen und könnte dann vielleicht mit Ihnen oder anderen Parteigenossen diese Angelegenheit durchsprechen, wobei ich auch die hiesigen Verhältnisse Ihnen genauer als das brieflich angängig ist, schildern würde."
Prof. Dr. Edmund Max Stengel (1845-1935), der Verfasser dieses Briefs, war zwischen 1871 und 1896 Professor für abendländische Sprachen und Literaturen an der Philipps-Universität Marburg. Er war Mitglied der liberalen freisinnigen Partei und kandidierte 1893 erfolglos für den Preußischen Landtag und den Reichstag im Wahlkreis Eschwege-Schmalkalden. Nach seinem Wechsel an die Universität Greifswald blieb er weiterhin politisch aktiv und schaffte 1907 den Einzug in den Reichstag.
Stengel gehörte im Januar 1891 zu den Unterzeichnern des reichsweiten Aufrufs zur Gründung des „Vereins zur Abwehr des Antisemitismus“ (VAA) und war einer der Gründer und führenden Vertreter der Ortsgruppe Marburg, die ab Oktober 1891 versuchte, der antisemitischen Bewegung im Kreis Marburg entgegen zu treten.
Das hier vorliegende Dokument ist ein Briefentwurf Stengels an den damaligen Vorsitzenden der Freisinnigen, Eugen Richter. Er wurde Anfang März 1890, also noch vor Gründung des VAA, verfasst. Der Entwurf ist eine Antwort auf einen Brief Richters, in dem er Stengel sein Badauern ausdrückt, dass dieser nicht in den Reichstag gewählt wurde. Stengel hatte im Odenwald kandidiert. Richter bat Stengel des Weiteren um eine Stellungnahme zu den Wahlerfolgen der Antisemiten in Hessen. Stengels Antwort auf diese Frage enthält einige für unseren Zusammenhang interessante Überlegungen zu möglichen Abwehrstrategien gegen den zu dieser Zeit sehr erfolgreich agierenden Antisemiten Otto Böckel, einer seiner ehemaligen Studenten, der zwischen 1887 und 1903 ununterbrochen den Marburger Wahlkreis gewinnen konnte.
Arbeitsaufträge:
- Wie glaubt Stengel die antisemitische Bewegung Böckels am besten bekämpfen zu können? Welche Strategie erscheint ihm am günstigsten?
- Vor welchen zentralen Problemen steht in Stengels Augen eine Kampagne gegen die Antisemiten?
- Was erwartet Stengel von den Juden? Versuchen Sie anhand Stengels Aussagen zu den Juden soweit wie möglich das generelle Verhältnis zwischen Juden und den Aktionen der (meist nicht-jüdischen) Mitgliedern des VAA zu ergründen.
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