2. Entnazifizierung
Zentrales Ziel der amerikanischen Besatzungsmacht nach ihrem Einmarsch war die gänzliche Zerschlagung des Nationalsozialismus als politischer Kraft. Durch eine konsequente Säuberung der deutschen Verwaltung und Wirtschaft sollte diese Absicht realisiert werden. Die anfängliche Radikalität dieser Maßnahme bestand in der Entlassung aller auch nur formal belasteten Personen. Die Bestimmungen der Amerikaner sahen in der ersten Entnazifizierungsphase bis zum 7. Juli 1945 vor, aus dem öffentlichen Dienst sei zu entfernen, wer vor dem 30. 1. 1933 einer NS-Organisation angehört hatte. In der folgenden Phase wurden die Bestimmungen differenzierter (136 Kategorien) und auf Personen erweitert, die vor dem 1. 5. 1937 einer nationalsozialistischen Gruppierung beigetreten waren.[25]
Die Deutschen bemängelten an dieser Entnazifizierungspraxis das Fehlen einer individuellen Betrachtung der vorliegenden Fälle. Außerdem beklagten sie den Verlust der für den Wiederaufbau notwendigen Fachleute in allen Wirtschafts- und Verwaltungsbereichen. Diese Ansicht dokumentierten immer wieder Äußerungen des Staatspolitischen Ausschusses: Dabei [bei seiner Arbeit] ist er [der Ausschuß] bemüht, charakterlich wertvolle, fachlich geschulte und für den Wiederaufbau in unsererStadt dringend notwendige Arbeitskräfte der Allgemeinheit zu erhalten, wenn sie nachge- wiesenermaßen nur durch eine formale und nominelle Zugehörigkeit zur NSDAP zwar politisch belastet, aber zu der demokratischen Mitarbeit an dem Wiederaufbau geeignet erscheinen."[26] Entsprechende Vorstellungen hätten den Staatspolitischen Referenten Mütze bereits Ende Mai 1945 zur Aufstellung eines Richtlinienentwurfs bewogen, in dem er der Militärregierung eine Regelung für die Entnazifizierung der deutschen Behörden vorschlug (Dokument 12).[27] Mützes Initiative stieß bei den Amerikanern jedoch auf keinen Widerhall, da diese auf neue Anweisungen seitens ihrer vorgesetzten Dienstbehörden warteten. Je mehr Personen im Laufe des Jahres 1945 von der Entnazifizierung erfaßt wurden[28] (bis September 1945 waren in der amerikanischen Zone 66 500 Personen interniert), je strenger die Bestimmungen wurden, desto stärker wurde die Kritik unter den Deutschen an dem Entnazifizierungsprogramm. Viele - besonders schwere - Fälle wurden verzögert behandelt, da die Bereitstellung von Belastungs- material Zeit beanspruchte. Infolgedessen konnten Mitläufer, deren Verfahren unmittelbar nach Kriegsende abgeschlossen wurde, relativ härter bestraft werden als Hauptschuldige, die später, als nicht mehr so energisch und konsequent vorgegangen wurde, vor Gericht oder Spruchkammern standen. Ein umfassendes Beispiel dafür bieten die 23 "Thesen zur Entnazifizierung" des katholischen Geistlichen Pfarrer Nüdling (Dokument 13), die sich auch der Staatspolitische Ausschuß zu eigen machte. Mit dem "Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus" schufen Amerikaner und Deutsche im Frühjahr 1946 gemeinsam die Grundlage für eine eigenverantwortliche deutsche Entnazifizierungspraxis. Dieses Gesetz kam der deutschen Kritik in vielen Punkten entgegen und schuf mit der Einrichtung unabhängiger Spruchkammern eine neue Situation.[29] Aber auch die Verwirklichung einer "gerechten" Entnazifizierung durch die Deutschen selbst scheiterte aus mehreren Gründen: Es mangelte an geeigneten Richtern, die nicht nationalsozialistisch organisiert gewesen waren. Der weitreichende Entscheidungsraum der Spruchkammern führte zu Willkür in der Einstufungspraxis. Die Kammervorsitzenden entlasteten zu bereitwillig, wie die Schriftleitung der Marburger Presse (H. Bauer) beklagte: Die Spruchkammer hat Aktivisten in die Gruppe der Mitläufer eingereiht, so daß sich die wirklichen Mitläufer, also die nur nominellen P. g.'s, in dieser Gesellschaft nicht mehr wohlfühlen. Der Gesetzgeber hat wohlweislich für die Aktivisten, denen man mildernde Umstände zubilligen kann, die Gruppe der Minderbelasteten eingeschaltet. In dieser Gruppe 3 ist die Bleibe derer, die nicht nur mitgelaufen sind, sondern die mitgemacht haben. Man darf sie nicht in die Gruppe 4 (Mitläufer) befördern, wenn man deren rechtmäßige Mitglieder nicht beleidigen will."[30] Außerdem bestimmte die gesellschaftliche Herkunft die Aussichten, entlastet zu werden. Personen mit weitreichenden Beziehungen wurden - laut Aussage des Marburger öffentlichen Klägers Paul J. Pohnke[31] - häufig zu vorteilhaft eingestuft (Dokument 14).[32] Eine umfassende Analyse der Spruchkammerpraxis bot 1947, als Zwischenbilanz, der Vorsitzende einer der beiden Spruchkammern Marburg-Land (Dokument 15): Sie zeigt, daß durch das Entnazifizierungsprogramm eine deutsche personelle Kontinuität in Wirtschaft und Verwaltung von der nationalsozialistischen zur nachfolgenden Phase nicht verhindert wurde.
Anmerkungen:
[25] Vgl. GIMBEL, Marburg nach dem Zusammenbruch, S. 24-36 und DERS., Eine deutsche Stadt, S. 174- l89.
[26] Marburger Presse Nr. 4 vom 25. 9. 1945, S. 3. Vgl. dazu auch [Dokument 4], Abschnitt IV.
[27] Vgl. auch GIMBEL, Marburg nach dem Zusammenbruch, S. 26.
[28] Vgl. hierzu GIMBEL, Eine deutsche Stadt, S. 175 f.
[29] Vgl. GIMBEL, Marburg nach dem Zusammenbruch, S. 26-31 und DERS., Eine deutsche Stadt, S. 190- 203. [30]Marburger Presse Nr. 81 vom 11. 10. 1946, S. 7.
[31] Vgl. dazu GIMBEL, Marburg nach dem Zusammenbruch, S. 29 f.
[32] Bauer zeigte sich über die deutsche Entnazifizierungspraxis so empört, daß er Ende 1946 als stellvertre- tender Kammervorsitzender zurücktrat. (Gespräch mit Hermann Bauer am 22. 4. 1976).
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