Dokument 12
Richtlinien des Staatspolitischen Referenten Ludwig Mütze zur Entnazifizierung der deutschen Verwaltung (an Oberbürgermeister Siebecke) vom 28. 5. 1945
Urheber
Staatspolitischer Referent Ludwig Mütze
Datum
19450528
Bestand/Sign.
HStAM
Richtlinien, nach denen die Säuberung der deutschen kommunalen und staatlichen Verwaltungszweige von Nazis durchgeführt werden könnte[44]
(Vorschlag des staatspolitischen Referenten der Stadt Marburg.)
A.
Aus dem Amt wird entlassen:
1.) Wer vor dem 1. Januar 1933 Mitglied der NSDAP war ("alter Kämpfer").
2.) Wer vor dem 1. Januar 1933 einer Gliederung der Partei (Fragebogen der Militär-Regierung S. 2, Nr. 1) [45] angehörte.
3.) Wer nach dem 1. Januar 1933 Funktionär der Partei im Range eines Ortsgruppenleiters und aufwärts war.
4.) Wer nach dem 1. Januar 1933 Führer der politischen SS (d. h. nicht der Waffen-SS) oder der SA oder des NSFK oder des NSKK im Range eines Sturmführers und aufwärts, in der HJ im Range eines Stammführers und aufwärts, oder einer Mädelringführerin und auf- wärts oder im RAD [46] (64) im Range eines Arbeitsführers und aufwärts oder in der NSF im Range einer Kreisführerin und aufwärts war.
5.) Wer zu irgend einer Zeit Beamter oder Angestellter irgend welcher Art im Dienste der Gestapo oder des SD (Sicherheits-Dienst) war.
6.) Wer nachweisbar zu irgend einer Zeit als Spitzel im Dienste der Gestapo oder des SD stand oder wer durch Denunziation Anti-Nationalsozialisten ins Gefängnis, Zuchthaus oder KZ oder zur Entlassung aus ihrem Amte gebracht hat.
B.
Bis zur genauen Oberprüfung seiner politischen Einstellung, Haltung und Betätigung wird vom Amte suspendiert:
1.) Wer nach dem 1. Januar 1933 als Zellenleiter Funktionär der Partei war.
2.) Wer in der politischen SS oder der SA oder im NSFK oder im NSKK Führer im Range eines Truppführers oder Obertruppführers, in der HJ im Range eines Gefolgschafts-, Obergefolgschafts- oder Hauptgefolgschaftsführers oder einer Mädelringführerin, im RAD eines Feld-, Oberfeld- oder Oberstfeldmeisters, in der NSF einer Ortsgruppenleiterin, im NSD eines Dozentenbundführers und im NSDStB eines Gau- oder eines Universitäts-Stu- dentenführers war.
3.) Wer eine Funktion in der Kreisleitung der NSDAP ausübte (z. B. als Kreisrichter, Kreisredner, Kreisschulungsleiter usw.), oder wer in einem der Partei angeschlossenen Verbände (Fragebogen der Militär-Regierung S. 2, Nr. 2)[47] Kreisamtsleiter oder mehr war.
4.) Wer (gleich, ob Mitglied der Partei oder nicht) nachweisbar bis zuletzt besonders ativer und fanatisch-überzeugter Nazi gewesen ist.
Bei positivem Ergebnis der Oberprüfung suspendierter Beamter sind diese nach den Be- stimmungen unter C. und D. zu behandeln.
C.
Im Interesse des Dienstes wird strafversetzt in einen anderen Dienstort oder in eine andere, aber nicht leitende Dienststelle (unter Selbstübernahme evtl. Umzugskosten):
1.) Wer in leitender Beamtenstellung war und als Blockleiter der Partei oder als SS- oder SA-Mann oder als Amtswalter einer Gliederung oder eines angeschlossenen Verbandes in der gelben Partei-, der braunen SA- oder der schwarzen SS-Uniform in der Öffentlichkeit aufgetreten ist.
Für die Lehrer- und Erzieherschaft gilt diese Bestimmung für Hauptlehrer und Konrekto- ren und aufwärts an Volksschulen, für Oberstudienräte und aufwärts an höheren Schulen, für Direktorstellvertreter und Direktoren an Berufsschulen usw.
D.
Alle Beförderungen, dienstlichen Verbesserungen usw. von Beamten, die seit dem 30. Januar 1933 nachweisbar wegen der Parteizugehörigkeit, der Parteiverdienste oder durch Parteibegünstigung oder wegen des Kirchenaustrittes erfolgt sind, werden rückgängig gemacht.
E.
Wenn eine Person in mehr als eine Gruppe in Bezug auf die Behandlung dieser Anweisung fällt, so muß diejenige Gruppe, für die in dieser Anweisung die strengste Behandlung vorgeschrieben ist, maßgebend sein.
F.
Bei Schulaufsichtsbeamten ist ein besonders scharfer Maßstab anzulegen.
G.
1.) Um in jedem Falle Härte und Unrecht zu vermeiden, sind Sonderfälle von Entlassungen oder Suspendierungen, die nach den Bestimmungen A. bis D. erfolgen müßten, individuell zu prüfen und zu behandeln (wenn z. B. die grundlegende und entschiedene Abkehr eines selbstlosen Idealisten vom Nationalsozialismus, nachdem er von ihm als Irrwahn er- kannt war, nachweisbar ist und verbürgt wird).
2.) In leitende Beamtenstellen dürfen nur Personen berufen werden, die über fachliches Können verfügen, charakterlich untadelig sind, nicht Mitglied der Partei waren oder aber verbürgte, immer überzeugte und unbeirrbare Gegner des Nazismus geblieben sind.
3.) Entlassene oder suspendierte Beamte dürfen nur durch Kräfte ersetzt werden, die nicht unter die in A. und B. aufgeführten Bestimmungen, bzw. Belastungen fallen.
gez. Mütze.
Anmerkungen:
[44] Vgl. auch [Dokument 8].[45] S. hierzu H. BAUER: Erinnerungen an 1945, in: Tradition und Fortschritt. 30 Jahre Marburger LDP/F.D.P., S.11.
[46] Der Bericht Ludwig MÜTZES Ist derzeit in Marburg nicht mehr aufzufinden (vgl. Vorwort). Auch in den Akten des SPA im Magistratsarchiv, im privaten Nachlaß Jakob Römers, Mützes Parteifreund, und in den Beständen der F.D.P. ist der Bericht u. W. nicht vorhanden. Zum Inhalt des Mützeschen Berichts vgl. GIMBEL, Marburg nach dem Zusammenbruch, S. 9 f. sowie DERS., Eine deutsche Stadt, S. 102 ff.
[47] Vgl. GIMBEL, Marburg nach dem Zusammenbruch, S. 11
Bearbeiter: CK — URL dieses Dokuments: http://digam.net/index.php?doc=5017
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