Inflation der Gutachten und Reden [71]
Die Entnazifizierung ist von manchen Kreisen mißverstanden worden. Man kommt da zur Spruchkammer mit dicken Bänden von Gutachten, Charakterbeurteilungen; man sollte sich fragen, woher all das schöne Papier stammt, worauf alle Gutachten sauber geschrieben und verstempelt stehen. Wir müssen uns klar darüber werden, daß dies eine ungesunde Erscheinung in der Entwicklung unseres Volkes darstellt, und daß die papierne Beredsamkeit eine krankhafte Neigung unserer Zeit ist. Somit ergibt sich die Forderung nach Klarheit und Wahrheit. Zur Klarheit gelangen wir, wenn die Gutachter auch bereit sind, die Hand zum Eide für die Wahrheit zu erheben und eben da wird es manchen Umfall geben; denn geradestehen für die Wahrheit darf nur derjenige, der selber unbelastet ist. Für die Wahrheit zeugen darf nur der, der in Wahrheit beweisen kann, daß er nicht selber mit den Geschehnissen der Vergangenheit verknüpft war, die das ganze deutsche Volk heute so bitter belasten.
Wie war es einmal - wie fing es an? 1933 marschierte ein Haufen Gesellen in schnittigen Hosen durch die Straßen. Die, welche die kommende Konjunktur witterten, machten mit und so kam es! Einige mögen sich späterhin salviert haben - aber auch nur salviert. Die aus den Naziorganisationen, die aktiv Widerstand geleistet haben, sind zu zählen. Heute nun, heute, nach all den bitteren Erfahrungen möchten jedoch viele in die "Gruppe 5 der Entlasteten" eingereiht werden mit der Begründung: "Es ist uns unangenehm zum großen Haufen der Mitläufer gezählt zu werden!" Ja, meine Herren, damals war es niemand unangenehm im großen Haufen der Konjunktur-Anwärter mit dem vorgeklebten Hoheitsabzeichen und der sozial scheinenden Armbinde herumzulaufen; aber heute, da regen sich die Standesgefühle. Welche Gefühle eigentlich?
Da arbeitet im Straßengraben ein kleiner Pg., er ist belastet und muß Pflichtarbeit verrichten! Sein Kollege dagegen, so etwas wie ein Direktor, zur gleichen Zeit der Nazipartei beigetreten, fährt heute noch seinen Wagen und lebt von seinen Geldern. Der kleine Mann fand keine Gutachter, der große Mann um so mehr. Ist das Gerechtigkeit? Nein, das ist keine Gerechtigkeit - das ist härteste Verletzung aller demokratischen Prinzipien von Gerechtigkeit - aber man möchte nach altbewährtem Muster wieder eine Gerechtigkeit einführen, die den Kleinen unter seinen Lasten erdrückt und den Großen aufgrund seiner Beziehungen schützt. Daher wird es zur Aufgabe der Spruchkammer werden müssen, der Gerechtigkeit in der einzig wirksamen demokratischen Manier zum Siege zu verhelfen. Es wird weiterhin die große Aufgabe aller Mitglieder der Spruchkammer werden müssen, nicht so sehr augenblicklichen Nützlichkeitserwägungen nachzuhängen, sondern den schwierigen Weg der unbedingten Wahrheitserforschung zu gehen, das ist nämlich auch der Weg zur wahren Demokratie - in einer Demokratie, die nicht mit Gefälligkeitsakzepten operiert und notwendig zur geistigen Korruption führen muß, wird diese Methode fortgeführt.
Paul J. Pohnke Marburg.
Anmerkungen:
[71] Vgl. Kapitel II.Anfragen zu Reproduktionen in hoher Auflösung und druckfähige Vorlagen erhalten Sie von der unter Bestand/Sign. genannten Einrichtung.