Thesen zur "Entnazifizierung[48]
In der Absicht, in der schwierigen Frage der Entnazifizierung einer gerechten Beurteilung
den Weg zu bahnen, werden die folgenden Sätze zur Diskussion gestellt:
1.) Jeder vernünftige Mensch begrüßt die Säuberung unseres Volkslebens von verderblichen Einflüssen, die der Nationalsozialismus hinterlassen hat und erwartet eine geltendem Recht entsprechende gerechte Bestrafung derjenigen, die in seinem Namen Verbrechen begangen haben. Die gesamte Öffentlichkeit hat in dieser Erwartung die Ankündigung begrüßt, daß in Deutschland das Recht wiederhergestellt und der 'in allen Kulturstaaten geltende Grundsatz: nulla poena sine lege wieder zur Geltung gebracht werde.
2.) Die "Entnazifizierung", wie sie zur Zeit im Gange ist, geht doch, was den Personen- kreis und die Schwere der verhängten Maßnahmen betrifft, entschieden zu weit und wird von der öffentlichen Meinung besonders im Hinblick auf die gegebenen Zusagen[49] mit Recht stark kritisiert. Es gibt zahlreiche Fälle, in denen entschiedene Gegner des national- sozialistischen Systems, die in den vergangenen Jahren gelitten haben oder Schwierigkeiten ausgesetzt waren, jetzt wiederum unter harte Maßnahmen gestellt werden. In vielen Fällen steht ihnen nicht einmal der Weg der Appellation offen.[50]
3.) Die Betroffenen empfinden die gegen sie verhängten Maßnahmen wie: Inhaftierung, Entlassung aus dem Amt, Entziehung garantierter und wohlerworbener Rechte usw. nicht nur als völlig ungerechte, sondern als rechtswidrige Maßnahmen, da sie unter Außerachtlassung der seit Generationen geltenden Grundrechte und unter Verletzung der besonderen Verfahrensvorschriften getroffen sind, deren Geltung durch die Tatsache der Besetzung nicht aufgehoben ist. Das Gewissen der Öffentlichkeit stimmt ihnen entschieden zu.
4.) Die Erklärung, daß hier nach strengem allgemeinen Gesetz verfahren werden müsse, ist unzulässig. Im Namen des Gesetzes" und "auf höheren Befehl" sind in den vergangenen Jahren die schwersten Ungerechtigkeiten geschehen. Eine schematische Anwendung eines strengen allgemeinen Gesetzes ohne Berücksichtigung des einzelnen Falles bedeutet: summum jus, summa iniuria.
5.) Die Ausrede, es handele sich hier um "Sicherheitsmaßnahmen, die der künftige Staat treffen muß", überzeugt nicht, da der Staat solcher Mittel nicht bedarf und durch Ungerechtigkeiten seinen eigenen Bestand nur gefährdet.
6.) Eine radikale und schematische Durchführung der "Entnazifizierung" würde als Reaktion einen wilden Nationalismus heraufbeschwören und zu einer nachträglichen Nazifizierung der Deutschen führen, die sich zu 99 % vom Nationalsozialismus bereits innerlich gelöst hatten. Ansätze dazu sind bereits deutlich zu beobachten.
7.) Ein demokratischer Staat kann solch ungeheuerliche Eingriffe in die private Rechtssphäre wie: Freiheitsberaubung, Enteignung des Vermögens, Verdrängung aus der lebenslänglichen Beamtenstellung, Vorenthaltung des wohlerworbenen Pensionsanspruchs, Entzug von Konzessionen usw. aus bloß politischen Gründen niemals verantworten. Das sind Methoden, die den totalitären, diktatorischen Staat charakterisieren, dem Sinne der Demokratie zuwider sind. Durch solche Maßnahmen wird sich die Demokratie weder Respekt noch Autorität verschaffen.
8.) Es bleibt nur der Weg, die wirklich Verantwortlichen und Schuldigen sowohl für eine verbrecherische Gesamtpolitik wie für einzelne Verbrechen persönlich ausfindig zu machen und einer gerechten Bestrafung zuzuführen. Jedes verallgemeinernde und schematische Vorgehen führt notwendig zu Ungerechtigkeiten. Nur wenn der Kreis der zur Verantwortung Gezogenen sich auf die wahrhaft Schuldigen beschränkt, kann eine Wirkung der Aktion in positivem Sinne erwartet werden (vgl. These 2 und 6). Kollektivmaßnahmen sind mit der demokratischen Auffassung der Persönlichkeit nicht vereinbar.
9.) Falsch ist der Grundsatz (den ein amerikanischer Offizier vertrat): "Jeder Angehörige der Nazipartei und einer Gliederung ist a priori als schuldig anzusehen; die Last des Beweises, daß er unschuldig sei, liegt auf ihm." Jeder Kenner der deutschen Verhältnisse wird eine solche "probatio diabolica" ablehnen und wird im Gegenteil den rechten Grundsatz aufstellen: "Die Rechtsvermutung spricht dafür, daß die meisten Organisierten an der Entwicklung der Dinge und an Einzelverbrechen völlig unschuldig sind." Ein Kausalzusammenhang zwischen der Beitragszahlung des nichtverantwortlichen Einzelnen und dem politischen oder verbrecherischen Ergebnis der Handlungsweise der Verantwortlichen besteht nicht. In jedem Falle, in dem jemand zur Verantwortung gezogen wird, muß ihm das Vorliegen einer strafbaren Handlung und sein Verschulden nachgewiesen werden.
10.) Die Zahl derer, die am Hebel der Macht saßen, als nationalsozialistische Parteimacht- haber für die falsche Politik verantwortlich sind, oder die auch nur einen Einblick in die Pläne im Ganzen oder im Einzelnen hatten, ist gering. Bis in die höchsten Stellen des Staates und der Partei ging die Gegnerschaft gegen die Drahtzieher einer Katastrophenpolitik. Trotz des Satzes: "Die Partei befiehlt dem Staat" leistete der Staatsapparat weitgehend Widerstand gegen den Parteidruck.
11.) Die bloße Mitgliedschaft in der Partei oder einer anderen NS-Organisation, auch die Bekleidung eines niederen Amtes, beweist für die innere Einstellung des Organisierten nicht das Geringste. Das Mitläufertum und die durch das Gewalt- und Oberwachungssystem erzwungene Heuchelei waren unter dem Nazisystem für sehr viele unvermeidlich.
12.) Der Eintritt in eine NS-Organisation hing oft von Zufälligkeiten ab: von geschickter Täuschungspropaganda - darauf sind vor allem die frühen Eintritte überwiegend zurückzuführen -, vom Rat eines Freundes, von örtlichen Parteiverhältnissen usw.
13.) Die Motive für den Eintritt waren in vielen Fällen moralisch durchaus vertretbar, z. B.: die Erwartung, die soziale Frage werde der Lösung näher gebracht werden; die neue Partei werde die ungeheure Arbeitslosigkeit und die zunehmende wirtschaftliche Not überwinden oder ein soziales Aufbauprogramm verwirklichen; der Wille, Schlimmeres zu verhüterl und die Absicht, durch Kritik von innen her einen mäßigenden Einfluß auf die radikaleren Elemente zur Geltung zu bringen; die eigene Existenz und die der Familie zu sichern usw.
14.) Der Austritt aus der Partei war überhaupt nicht möglich, auch nicht für die längst Enttäuschten und nun erbitterten Gegner des Systems.
15.) Eine unterschiedliche Behandlung der Mitgliedschaft lediglich unter dem Gesichtswinkel des Zeitpunktes, in dem sie erworben ist - also vor 1933, vor 1937, nach 1937 - führt schon mit Rücksicht auf die verschiedenen Motive für den Eintritt im Einzelfalle notwendig zu Ungerechtigkeiten. Gerade die der Partei frühzeitig Beitretenden waren oft nicht von eigen- nützigen Motiven geleitet, sondern meist gutgläubige Idealisten, die das Beste wollten und - nachdem die Täuschung erkennbar wurde - bald scharfe Gegner der führenden Parteiklique wurden. Beweis: 20. Juli 1944.
16.) Grundfalsch ist es, die Schuldfrage rückschauend von dem aus zu beurteilen, was im Laufe der Entwicklung erst geworden ist. Niemand ist verantwortlich für das, was er nicht gewollt, nicht gewußt und nicht vorausgesehen hat. Es wird übersehen, daß die überwiegende Mehrheit des gesamten deutschen Volkes am Tage von Potsdam, dem 21. März 1933 und noch lange Zeit danach mit gläubigem Vertrauen einer Verwirklichung der ihm gemachten nicht zu beanstandenden Versprechungen entgegensah. Es wird auch übersehen, daß die gesamte politisch unterrichtete Welt noch im Jahre 1936 unbedenklich der Einladung des Deutschen Reiches und seines damaligen Oberhauptes zur Olympiade gefolgt ist, die nur mit ihrer Zustimmung in Berlin hat stattfinden können. Man muß die psychologische Frage stellen, was die Menschen im Zeitpunkt des Eintritts im Nationalsozialismus gesehen und was sie mit ihrem Beitritt gewollt haben.
17.) Aus alledem ergibt sich, wie unmöglich es ist, einen lebendigen Menschen nach einem politischen Fragebogen beurteilen zu wollen. Bessere Grundlage für eine Entscheidung als ein Fragebogen ist der lebendige Mensch und sein eigenes Zeugnis und das Zeugnis glaubwürdiger Zeugen.
18.) Die Beurteilung sollte nicht so sehr geschehen in der Rückschau auf das Frühere als vielmehr in der Vorschau auf das Heutige. Es ist die Frage zu stellen: Eignet sich der Betreffende, am Aufbau eines neuen, besseren, demokratischen Deutschland mitzuarbeiten?
19.) Die Methode, die Menschen zuerst zu maßregeln, zu entlassen, zu inhaftieren usw., um ihnen später den Weg der Entlastung unter Appellation zu eröffnen, ist sehr verwerflich. Sie führt zu menschlichen Tragödien, zu Verbitterung und Verzweiflung oft unschuldiger Menschen. Dem gesunden Rechts- und Sittlichkeitsempfinden entspricht es allein, daß erst dann eine Strafmaßnahme verhängt wird, wenn ein strafbarer Tatbestand und eine persönliche Schuld einwandfrei nachgewiesen ist.
20.) Die Behandlung der politischen Häftlinge, unter denen sich viele Unschuldige oder nur geringfügig Belastete befinden, muß humaner werden, indem wenigstens ein Briefwechsel mit den Angehörigen und ein Empfang von Paketen erlaubt wird, wie es selbst im Konzentrationslager gestattet war.
21.) Die Phase der "Entnazifizierung" muß schnell überwunden werden, das Gefühl der persönlichen Sicherheit, die "Freiheit von Furcht" muß bei uns bald wieder einkehren, wenn der neue Staat Vertrauen gewinnen und der Wille zum einträchtigen Wiederaufbau erstarken soll.
22.) Die wesentliche "Entnazifizierung" kann nicht so sehr in wirtschaftlichen und politischen Maßnahmen bestehen, als vielmehr in einer geistigen Neuorientierung des deutschen Volkes. Eine religiös-sittliche Umerziehung, die von Kirchen, Schulen und pädagogischen Gesellschaften geleistet werden muß, ist die vordringlichste Aufgabe der heutigen Zeit.
23.) Von der Aufbauarbeit sollte niemand ausgeschlossen werden, der guten Willens ist. Die sonst eintretende Brachlegung einer Unsumme von Fähigkeiten und Erfahrungen kann niemand verantworten, dessen Ziel ernsthaft die Befriedung der Menschheit ist.
Anmerkungen:
[48] Enttäuschung darüber war auch ein Grund für Bauers Rückzug aus dem SPA. Er meinte, seine bisherige Arbeit sei meist vergeblich und gab an, er wolle sich ganz dem Aufbau einer demokratischen Presse widmen. BAUER an Mütze, undatiert (Aug. 1945), Bauerpapiere.
[49] Vgl. GIMBEL, Marburg nach dem Zusammenbruch, S. 11 f.[50] Vgl. hierzu GIMBEL, Eine deutsche Stadt, S. 122, S. 132.
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