4. Exzesse der Gewalt im Namen der "Erbgesundheit" des deutschen Volkes - Zwangssterilisationen und Krankenmorde
Um der Entscheidung über Zwangssterilisationen den Anschein eines rechtsförmigen Verfahrens zu geben, wurden ab 1933 sogenannte Erbgesundheitsgerichte eingeführt, deren Aufgabe es war, die Durchführung von Zwangssterilisationen zu beschließen (Dok. 1 - 3).
Der deutsche Angriff auf Polen am 1. September 1939, der den Beginn des Zweiten Weltkriegs markiert, führte auch zu einer weiteren Entfesselung der gegen Patienten von Heil- und Pflegeanstalten eingesetzten Gewalt. Schon im September 1939 war es im besetzten Polen zu ersten Massakern an Patienten psychiatrischer Anstalten gekommen, die von der SS mit Unterstützung der Wehrmacht durchgeführt worden waren. Anfang Oktober ordnete Adolf Hitler mit einem auf den 1. September, den Tag des Angriffs auf Polen zurückdatierten Schreiben an den Leiter der Kanzlei des Führers, Philipp Bouhler an, "dass nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann" (Nürnberger Dokument PS-630). Man rechnete mit etwa 70.000 für die Ermordung in Frage kommenden Patienten. Zur Durchführung dieser Aufgabe wurde unter Leitung der Kanzlei des Führers in den folgenden Monaten eine halbstaatliche, öffentlich nicht in Erscheinung tretende Sonderverwaltung aufgebaut, deren Zentrale in der Berliner Tiergartenstraße 4 ihren Sitz hatte und deren Aktivitäten deshalb unter dem Kürzel "T 4" ausgeführt wurden.
Die Heil- und Pflegeanstalten wurden aufgefordert, Meldebögen über ihre Patienten auszufüllen, diese wurden an von der T4-Zentrale ernannte Gutachter überreicht, die aufgrund der Angaben in dem Formblatt über Tötung ("+") oder Weiterleben ("-") der Patienten entschieden. In insgesamt 6 ausgewählten Anstalten wurden Tötungseinrichtungen mit Gaskammern und Krematorien gebaut, entsprechend "begutachtete" Patienten aus anderen Anstalten wurden mit Bussen von einer eigens dafür eingerichteten Transportgesellschaft in diese Gaskammern transportiert und dort ermordet (Dok. 4, 5). In ebenfalls speziell eingerichteten Standesämtern wurden Todesurkunden mit falschen Todesursachen ausgestellt und über den Umweg möglichst weit entfernter, anderer Anstalten an die Angehörigen übersandt, um Nachforschungen vor Ort zu vermeiden.
Trotzdem entstand wachsende Beunruhigung unter den Angehörigen von unerwartet Verstorbenen, und nachdem der Münsteraner Bischof August Graf von Galen im August 1941 in einer Predigt öffentlich die Verlegungen und Todesraten in Heil- und Pflegeanstalten angeprangert hatte, befahl Adolf Hitler die Einstellung der "Aktion T4".
Die Ermordung von Kindern und Erwachsenen mit Behinderungen durch die Verabreichung von tödlichen Medikamenten oder Nahrungsentzug wurde jedoch in einigen Heil- und Pflegeanstalten bis Kriegsende fortgesetzt (Dok. 6 - 9).
Literatur:
Michael Burleigh (Hrsg.): Tod und Erlösung. Euthanasie in Deutschland 1900–1945, Zürich 2002.
Henry Friedlander: Der Weg zum NS-Genozid. Von der Euthanasie zur Endlösung, Berlin 2002.
Ernst Klee: „Euthanasie“ im NS-Staat. Die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“, Frankfurt 1983; 2. überarb. Aufl. Frankfurt 2010.
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