11. Die Emanzipation der Juden im Königreich Westphalen 1807-1813
Das Königreich Westphalen wurde am 15. November 1807 gegründet und umfasste die Gebiete des Kurfürstentums Hessen, des Herzogtums Braunschweig-Wolfenbüttel, der ehemals preußischen Gebiete westlich der Elbe, den südlichen Teil Hannovers sowie die Bistümer Hildesheim, Paderborn und Osnabrück. Die Gründung dieses neuen Staates ohne jegliche historische Tradition geht auf die Initiative Napoléons zurück, seit 1804 selbsternannter Kaiser der Franzosen, der sich zu diesem Zeitpunkt infolge seiner erfolgreichen Feldzüge auf dem Höhepunkt seiner Macht befand. Der gesamte Süden und Westen des ehemaligen deutschen Reiches standen im Rahmen des Rheinbundes unter französischem Einfluss. Um diese Position zu sichern, entschied sich Napoléon für die Gründung des Königreichs Westphalens, das neben der militärischen Pufferfunktion gegenüber Preußen und Österreich einen politisch-propagandistischen Auftrag erfüllen sollte. Als liberal-aufklärerischer und vorbildlich geführter Modellstaat erhoffte Napoléon den Beweis für die Überlegenheit der fortschrittlichen französischen Gesellschaftsordnung zu erbringen. Vor allem innerhalb des Rheinbundes sollte diese Vorbildfunktion des neuen Staatesgebildes die Ausrichtung der übrigen Rheinbundstaaten an Frankreich und dessen ordnungspolitischen Vorstellungen verstärken und die Stellung Frankreichs in Europa auf diese Weise langfristig sichern.
Dem neuen Staatskonstrukt mangelte es jedoch erheblich an Legitimität. Vor allem die ländliche Bevölkerung zeigte sich weiterhin loyal zu den ehemaligen Herrschern und betrachtete das oktroyierte französische Modell dementsprechend als Fremdherrschaft. Legitimierten die bisher herrschenden Fürsten ihre Macht traditional unter Berufung auf die Zugehörigkeit zu einer weit in die Geschichte zurückreichenden Herrscherdynastie, so waren Napoléon und sein Bruder Jérôme, der zukünftige König des neu geschaffenen Staatsgebildes, darauf angewiesen, die neue Herrschafts- und Gesellschaftsordnung Westphalens auf völlig andere Art und Weise zu rechtfertigen. Im Vorfeld der Gründung des Königreichs Westphalen wurde deshalb auf die Rationaliät der neuen staatlichen Ordnung großen Wert gelegt. Jedem Bürger solle offenkundig werden, dass es sich unter einer Regierung, die auf der Grundlage des Rechts für jeden nachvollziehbare und erwartbare Entscheidungen trifft, viel besser leben lasse als unter der Willkürherrschaft eines an keine Rechtsbeschränkungen gebundenen absolutistischen Herrschers. Am 15. November 1807, dem Tag der Verabschiedung der westphälischen Verfassung, schrieb Napoléon an seinen Bruder: „Quel peuple voudra retourner sous le gouvernment arbitraire prussien, quand il aura goûté les bienfaits d’une administration sage et libérale?“
In diesem Sinn wurde das Königreich Westphalen unter Bezugnahme auf das französische Vorbild als Modell- und Vorbildstaat konstruiert, der durch die rechtliche Etablierung der aufklärerisch-liberalen Prinzipien der französischen Revolution mit den überkommenen Herrschaftssystemen demonstrativ brach. Westphalen erhielt als erster Staat auf deutschem Boden eine geschriebene Verfassung, die tradierte Adelsprivilegien und die Feudalherrschaft abschaffte und die Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz sowie die freie Ausübung der Religion einführte. Konsequenterweise bemühte sich die in Kassel sitzende Regierung des Königreichs in diesem Zusammenhang auch um die rechtliche Gleichstellung der ca. 19 000 Juden ihres Staatsgebiets, die in den bisher gültigen Rechtsordnungen immer eine diskriminierende Sonderstellung einnahmen. Ihre Bewegungsfreiheit war ähnlich wie in anderen Ländern Europas eingeschränkt gewesen, sie waren vielerorts hohen Sondersteuern ausgesetzt und ihre Berufswahl und –ausübung wurde in der Regel äußerst streng kontrolliert. Gegen diese Ungleichberechtigung hatten sich bereits Ende des 18. Jahrhunderts einige Aufklärer gewehrt. Vor allem die auf die Emanzipation der Juden drängenden Schriften des Chrsitian Wilhelm von Dohm hatten im Vorfeld der französischen Revolution große Wirkung entfacht und die Verabschiedung des ersten Emanziaptionsgesetzes der Assemblé constituante in Paris am 27. September 1791 beinflusst, wodurch die Juden Frankreichs die Gleichheit vor dem Gesetz erlangten. An diese Linie schloss auch die neue Kasseler Regierung an. Sie beendete ab 1808 mit einer Reihe von Dekreten die rechtliche Ausgrenzung und etablierte somit die volle Rechtsgleichheit zwischen Juden und der restlichen Bevölkerung (u.a. Emanzipationsdekret von 1808, Dekret über die Eidleistungen von Juden). Doch nicht nur bei der rechtlich-formalen Gleichstellung zeigte die neue Regierung großen Elan. Sie achtete auch auf die Implementierung und Befolgung der Emanzipationsgesetze auf den unteren Verwaltungsebenen (z.B. Schreiben des Justizministers an den Präfekten des Werra-Departements), wobei sie dabei auf Grund einiger Vagheiten in der Emanzipationsgesetzgebung (siehe Art. 2 des Emanzipationsdekrets) und weiterhin fortbestehender antijüdischer Stereotypen nur teilweise erfolgreich war.
Sebastian Haus
Berding, Helmut: Die Emanzipation der Juden im Königreich Westphalen (1807-1813), in: Archiv für Sozialgeschichte 23/1983, S. 23-50.
Ders.: Das Königreich Westphalen als napoleonischer Modell- und Satellitenstaat (1807-1813), in: Dethlefs, Gerd u.a. (Hg.): Modell und Wirklichkeit. Politik, Kultur und Gesellschaft im Großherzogtum Berg und im Königreich Westphalen, Paderborn 2008, S. 15-29.
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Minninger, Monika: Gleichberechtigte Bürger? Zur behördlichen Umsetzung der neuen Judengesetzgebung in den westlichen Distrikten des Königreichs Westphalen, in: Dethlefs, Gerd u.a. (Hg.): Modell und Wirklichkeit. Politik, Kultur und Gesellschaft im Großherzogtum Berg und im Königreich Westphalen, Paderborn 2008, S. 337-355.
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