4. Waldnutzung durch die Bevölkerung

Auszüge aus: Hardt, Matthias, Wald und Siedlung im frühen Mittelalter, in: "Weil das Holz eine köstliche Wahre" - Wald und Forst zwischen Mittelater und Moderne, Hg. von Andreas Hedwig, Marburg 2006, S. 7-21.
Das Land, so schrieb der Historiker Publius Cornelius Tacitus in der zweiten Hälfte des 1. nachchristlichen Jahrhunderts im fünften Kapitel seiner „Germania“, sei eine terra aut silvis horrida aut paludibus foeda, sowohl von entsetzlichen Wäldern als auch von grässlichen Sümpfen1.
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Die nicht wirklich aussagekräftige historiographische Nachricht aus der „Germania“ gibt jedoch ohne Zweifel eine Vorstellung wieder von dem andersartigen Eindruck, den das Land außerhalb der Reichsgrenzen gegenüber den geregelten Kulturlandschaften der römischen Provinzen an Rhein und Donau und erst recht des mediterranen Raumes erweckte2. Der Wald scheint die Landschaft beherrscht zu haben, und so verwundert es auch nicht, dass der französische Mediävist Georges Duby für die ostrheinischen Gebiete des frühen Mittelalters ein Bild von den Siedlungen wie Inseln im Meer der Wälder zeichnete3. Das Wechselverhältnis dieser Siedlungen zum umgebenden Wald in dieser Frühzeit4 soll im folgenden zu beschreiben versucht werden5, wenn auch die Überlieferungslage nicht eben gänzlich sichere und vor allem nicht besonders reichliche Informationen zu dieser Fragestellung zur Verfügung stellt. Es soll zunächst um die Siedlungen gehen und um die Art und Weise, wie deren Bewohner den Wald nutzten.
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Oft auch waren die Siedlungen noch nicht ortskonstant, sondern innerhalb eines bestimmten Radius konnten die Siedlungsplätze, wie archäologische Grabungen gezeigt haben, immer wieder gewechselt werden6. Dies mochte aus Gründen der Bodennutzung geschehen, weil aufgrund noch nicht eingehaltenen Fruchtwechsels die Böden schnell nährstoffarm wurden. Vielleicht waren es auch die kaum länger als dreißig Jahre in der Erde überdauernden Holzpfosten der Häuser, die es naheliegend erscheinen ließen, nach deren Haltbarkeitsende dem Lieferanten des Baumaterials hinterher zu ziehen, dem Wald, der auch durch weitere Nutzungen von den Bewohnern der Siedlungen in unmittelbarer Nachbarschaft reduziert wurde. Es war nicht nur das Schlagen von Bau- und Brennholz, das sich in den Verordnungen der Volksrechte erwähnt findet, sondern vor allem die Waldweide, die den Wald in Siedlungsnähe offener werden ließ. Nicht die Eichelmast der Schweine ließ die Bäume so sehr leiden, viel mehr der Verbiß durch Pferde, Rinder, Schafe und Ziegen und die Entnahme von Laub als Futter und Streu7 machten eine natürliche Verjüngung der siedlungsnahen Wälder immer seltener möglich8. So öffneten sich die Waldränder immer mehr, und der Schritt zu ersten Rodungen zur Gewinnung neuer Acker- und Siedlungsflächen wurde somit erleichtert. Entlang der Gewässer wurde die Kulturlandschaft erweitert, wie zum Beispiel im Burgwald, wo sich, wie Hans-Peter Lachmann zeigen konnte, zunächst eine Anzahl von Orten in den Wald hineinschob. Diese wurden nach den Bächen benannt, deren Lauf sie in das Mittelgebirge folgten (z. B. Tissenbach, Michelbach, Wambach), oder führten die Bezeichnung der Gefilde, die im Zuge dieses ersten Landesausbaues angelegt wurden (z. B. Goßfelden). Es folgten bald die vielen Siedlungen mit dem Suffix -hausen oder -heim, und erst einer späteren Zeit gehörten dann die Orte an, denen man aufgrund ihrer Endung auf -rod oder -rode noch heute unschwer anmerkt, dass sie durch Rodung dem Wald abgerungen worden waren9.
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Die frühesten Nachrichten über die Erweiterung der Kulturlandschaft auf Kosten des Waldes liegen mit den Berichten über die Gründung der großen monastischen Gemeinschaften vor. Im Jahr 742 begab sich ein Schüler des Bonifatius, Sturmi, auf Anweisung seines Lehrers von der Einsiedelei Hersfeld10 aus in die Buchonia, ein Waldgebiet am Oberlauf der Fulda.
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Der hagiographisch überformte Bericht Eigils von den Aktivitäten Sturmis im Vorfeld der Gründung des Klosters Fulda läßt noch deutlich erkennen, daß der im Auftrag des Bonifatius wirkende Einsiedler mit kundigem Auge die naturräumlichen Voraussetzungen für eine mögliche Klostergründung prüfte und dabei Informationen sammelte, die sich bei der angestrebten Schenkung des zukünftigen Klosterareals durch den Hausmeier und deren rechtlicher Absicherung durch die Ausstellung einer Urkunde verwerten ließen.
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Die Art und Weise dieser Umwandlung und Erweiterung der Kulturlandschaft im 8. und 9. Jahrhundert wird auch durch zwei Urkunden Karls des Großen deutlich, die durch glückliche Umstände in den Klöstern Corvey und Fulda erhalten geblieben sind.
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Im Zusammenhang mit der festgestellten königlichen Förderung dieses Rodungsunternehmens im Kaufunger Wald soll kurz angedeutet werden, wie das fränkische Königtum zwischen dem 6. und dem 10. Jahrhundert mit den Wäldern umging, über die es in Fortsetzung der Gewohnheit der römischen Reichsadministration verfügte.
Schon von einem der ersten merowingischen Könige, dem in Köln residierenden Rheinfranken Sigibert dem Älteren ist durch den Chronisten Gregor von Tours überliefert, dass er die östlich des Rheins gelegene silva Buconia zur Jagd aufsuchte und dort umgebracht wurde11. Ein jüngerer gleichnamiger König, Sigibert III., stellte zwischen 643 und 647/48 eine Urkunde aus, in der er dem Abt Remaclus Grundbesitz in foreste nostra nuncupante Arduinna, in den Ardennen also, zum Bau des Doppelklosters Stablo-Malmedy überließ12. Damit ist das Wort „Forst“ erstmals überliefert, welches das lateinische saltus als Bezeichnung für den besonders geschützten königlichen Domanialwald ablöste13. Die Herkunft des heute so geläufigen Wortes ist umstritten14. Nachdem zunächst die Grimmsche Ableitung von ahd. Forha (Föhre, Kiefer) und dann die ebenfalls germanische Ableitung von firstiz, einem waagerechten Gefügeglied zaunartiger Holzkonstruktionen, von First also, überwiegende Anerkennung der Forschung fand, scheint heute deutlicher zu sein, dass das Wort aus lateinisch foris, draußen, weiterentwickelt wurde15. Forestis meinte das außerhalb der Siedlungslandschaft gelegene Wald- und Ödland, das vom König besonderen Schutz erhielt und in dem nur ihm und seinen Amtsträgern das Recht der Jagd, des Fisch- und Vogelfanges, der Waldweide, des Holzeinschlags, der Imkerei, von Bergbau und Verhüttung sowie der Rodung zustand.
[…] Ein intensiver Landesausbauprozeß fand im hohen Mittelalter auch in den bis dahin slawisch besiedelten Gebieten Mittel- und Ostdeutschlands statt. Bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts lebten die Bewohner in kleinen gewässernahen Siedlungen, in denen in Subsistenzwirtschaft Viehzucht und Ackerbau betrieben wurde, weiterhin aber die Tiere des Waldes und der Gewässer Grundlage von Ernährung, Handwerk und Handel waren. Fischfang spielte eine große Rolle, und die Pelze der Biber und kleinen Räuber waren begehrte Produkte im Fernhandel, auf den Märkten des Mittelmeergebietes und der arabischen Welt.
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Seit der Mitte des 12. Jahrhunderts warben die nach der Eroberung auch der nördlichen Slawenländer nunmehr askanischen Landesherren ebenso wie die slawischen Fürsten der Mecklenburger, Pommern und Schlesier in großem Umfang westliche Immigranten an. Mit ihnen gemeinsam lösten die slawischen Bewohner nun die künstlich verdichteten Grenzwälder auf, rodeten jetzt auch die gewässerfernen, bis dahin dicht bewaldeten Gebiete, legten planförmige Dörfer mit vermessenen, den Notwendigkeiten der Dreifelderwirtschaft angepassten Gewannfluren an, um großflächig Getreide anzubauen, das auf den geldwirtschaftlich organisierten Märkten der entstehenden Städte verkauft werden und zum Teil sogar in den überseeischen Export gelangen sollte16.
- Tacitus, Germania, c. 5, lateinisch und deutsch von G. Perl, in: Griechische und lateinische Quellen zur Frühgeschichte Mitteleuropas bis zur Mitte des 1. Jahrtausends u. Z., hrsg. von J. Herrmann, Berlin 1990, S. 84 f.: Terra etsi aliquanto specie differt, in universum tamen aut silvis horrida aut paludibus foeda [...]. Vgl. dazu auch H. Küster, Geschichte des Waldes. Von der Vorzeit bis zur Gegenwart, München 1998, Ndr. 2003, S. 99 und R. Hiestand, Waldluft macht frei, in: J. Semmler (Hrsg.), Der Wald in Mittelalter und Renaissance (Studia humaniora, 17), Düsseldorf 1991, S. 45-68, hier S. 45 f.
- Vgl. auch D. Timpe, Die Landesnatur der Germania nach Tacitus, in: H. Jankuhn/D. Timpe (Hrsg.), Beiträge zum Verständnis der Germania des Tacitus, Teil I (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, philologisch-historische Klasse, 3. Folge, Nr. 195), Göttingen 1992, S 258-277, bes. S. 262 und 270; H. Jäger, Die naturgeographischen Verhältnisse im Gebiet der Germania zur taciteischen Zeit, in: ebd. S. 124-152, bes. S. 145-147 zu Feuchtbodengebieten; U. Willerding, Klima und Vegetation der Germania nach vegetationsgeschichtlichen und paläo-ethnobotanischen Quellen, in: ebd., S. 332-373, bes. S. 342-349 zu den römischen Beobachtern bedrohlich erscheinenden Wäldern. Vgl. auch Küster, Geschichte des Waldes (wie Anm. 1), S. 101-108.
- G. Duby, Europa im Mittelalter, Stuttgart 1986, S. 9; Ders., Krieger und Bauern. Die Entwicklung der mittelalterlichen Wirtschaft und Gesellschaft bis um 1200, Frankfurt/M. 1984, S. 13-15; Ders., Die Zeit der Kathedralen. Kunst und Gesellschaft 980-1420, Frankfurt/M. 41985, S. 11 f. Vgl. auch Ch. Verlinden, Les forêts de l’Europe occidentale du Ve au XIe siècle, in: Agricoltura e mondo rurale in occidente nell’ alto medioevo (Settimane di studio del centro italiano di studi sull’ alto medioevo, XIII), Spoleto 1966, S. 343-398, hier S. 374.
- Zur frühgeschichtlichen Waldverbreitung vgl. auch Verlinden, Les forêts (wie Anm. 6), S. 350-374 und Kartenbeilage; A. Gerstenhauer, Die Stellung des Waldes in der Kulturlandschaft des Mittelalters und der frühen Neuzeit, in: J. Semmler (Hrsg.), Der Wald in Mittelalter und Renaissance (wie Anm. 1), S. 16-27.
- Vgl. zusammenfassend auch H. K. Schulze, Vom Reich der Franken zum Land der Deutschen. Merowinger und Karolinger (Siedler Deutsche Geschichte), Berlin 1994, S. 228-233.
- H. Steuer, Standortverschiebungen früher Siedlungen – von der vorrömischen Eisenzeit bis zum frühen Mittelalter, in: G. Althoff u.a. (Hrsg.), Person und Gemeinschaft im Mittelalter. Karl Schmid zum 65. Geburtstag, Sigmaringen 1988, S. 25-59; G. Kossack, Ortsnamen und Wohnplatzmobilität, in: V. Setschkareff/P. Rehder/H. Schmid (Hrsg.), Ars Philologica Slavica, Festschrift Heinrich Kunstmann (Sagners Slavistische Sammlung, 15), München 1988, S. 254-269; Küster, Geschichte des Waldes (wie Anm. 1), S. 110 f., 121.
- Gerstenhauer, Die Stellung des Waldes (wie Anm. 7), S. 16-27, hier S. 18-20.
- Küster, Geschichte des Waldes (wie Anm. 1), S. 114-117.
- H.-P. Lachmann, Untersuchungen zur Verfassungsgeschichte des Burgwaldes im Mittelalter (Schriften des Hessischen Landesamtes für geschichtliche Landeskunde, 31), Marburg 1967, S. 22-30.
- Zur Einrichtung der Einsiedelei Hersfeld und zum Namen des Platzes vgl. H. Beumann, Eigils Vita Sturmi und die Anfänge der Klöster Hersfeld und Fulda, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 2, 1952, S. 1-15, hier S. 6; P. Engelbert, Die Vita Sturmi des Eigil von Fulda. Literarkritisch-historische Untersuchung und Edition (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen, 29), Marburg 1968, S. 78 f.
- Gregor von Tours, Libri historiarum decem II, 40, ed. B. Krusch und W. Levison, MGH SS rer. Mer. I,1, Hannover 1951, S. 89.
- MGH Diplomata regum Francorum e stirpe Merovingica. Die Urkunden der Merowinger. Nach Vorarbeiten von C. Brühl hrsg. von Th. Kölzer unter Mitwirkung von M. Hartmann und A. Stieldorf, Teil 1, Hannover 2001, Nr. 81, S. 205-207, hier S. 206. Vgl. auch H. Kaspers, Comitatus nemoris. Die Waldgrafschaft zwischen Maas und Rhein. Untersuchungen zur Rechtsgeschichte der Forstgebiete des Aachen-Dürener Landes einschließlich der Bürge und Ville (Beiträge zur Geschichte des Dürener Landes, 7; Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins, Beiheft 2), Düren und Aachen 1957, S. 23, 93-95; H. Müller-Kehlen, Die Ardennen im Frühmittelalter. Untersuchungen zum Königsgut in einem karolingischen Kernland (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 35), Göttingen 1973, S. 39-44, 99; Th. Zotz, Beobachtungen zu Königtum und Forst im früheren Mittelalter, in: W. Rösener (Hrsg.), Jagd und höfische Kultur im Mittelalter (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 135), Göttingen 1997, S. 95-122, hier S. 95 f.
- Vgl. dazu H. Rubner, Vom römischen saltus zum fränkischen Forst, in: Historisches Jahrbuch 83, 1964, S. 271-277; zur Begrifflichkeit siehe auch K.-H. Borck, Zur Bedeutung der Wörter Holz, Wald, Forst und Witu im Althochdeutschen, in: B. v. Wiese/K.-H. Borck (Hrsg.), Festschrift für Jost Trier zu seinem 60. Geburtstag am 15. Dezember 1954, Meisenheim/Glan 1954, S. 456-476.
- Vgl. Verlinden, Les forêts (wie Anm. 6), S. 374-376; Zotz, Beobachtungen (wie Anm. 46), S. 95-101; C. Dasler, Forst und Wildbann im frühen deutschen Reich. Die königlichen Privilegien für die Reichskirche vom 9. bis zum 12. Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien 2001, S. 3 f.
- L. Söll, Die Bezeichnungen für den Wald in den romanischen Sprachen (Münchener Romanistische Arbeiten, Heft 25), München 1967; Kaspers, Comitatus nemoris (wie Anm. 46), S. 26 f.; 19-21.
- M. Hardt, Das „slawische Dorf” und seine kolonisationszeitliche Umformung nach schriftlichen und historisch-geographischen Quellen, in: Siedlungsforschung. Archäologie – Geschichte – Geographie 17, 1999, S. 269-291, hier S. 286-289; Ders., Die Veränderung der Kulturlandschaft in der hochmittelalterlichen Germania Slavica – offene Fragen beim derzeitigen Forschungsstand, in: F. Biermann / G. Mangelsdorf (Hrsg.), Die bäuerliche Ostsiedlung des Mittelalters in Nordostdeutschland. Untersuchungen zum Landesausbau des 12. bis 14. Jahrhunderts im ländlichen Raum (Greifswalder Mitteilungen. Beiträge zur Ur- und Frühgeschichte und Mittelalterarchäologie, 7), Frankfurt/Main u. a. 2005, S. 17-28.
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