1. Das Mittelalter in Hessen
Einführung (siehe auch > Ausstellungsübersicht)
Kaiser, König, Edelmann, Bürger, Bauer, Bettelmann, so lautet ein alter Abzählvers in einem Kinderspiel. In der Reihenfolge der Bezeichnungen spiegelt sich die Hierarchie innerhalb der ständisch gegliederten Gesellschaft des Mittelalters, denn Herrschaft wird zu jener Zeit über Personen ausgeübt und erst durch diese über ein Gebiet [Dokument 1 und 2].
Daß der Mönch in dieser Aufzählung fehlt, lag sicherlich daran, daß die Vertreter des Klerus aus allen Ständen kamen; sie mußten als Bischöfe und Äbte adeligen Geblüts sein, der einfache Klosterbruder konnte jedoch aus einer bäuerlichen Familie stammen. Zu dieser ständischen Gliederung, die auch durch eine Kleiderordnung sichtbar festgelegt wurde [Dokument 34], trat noch ein zweiter Ordnungsfaktor hinzu, der der Genossenschaft. Eine Existenz als Individuum, wie das heute selbstverständlich ist, lag bis weit in die Frühe Neuzeit hinein außerhalb jeder Vorstellung: Als Adeliger legitimierte man sich durch seine Ahnentafel und sein Wappen, als Bürger war man eingebunden in die Stadtgemeinde und durch sie in die jeweilige Gilde oder Zunft. Das bäuerliche Dasein hingegen war abhängig von den Formen der Grundherrschaft, der der jeweilige Bauer unterworfen war, im späten Mittelalter war es zudem die Dorfgemeinschaft, zu der der Bauer gehörte. Sogar die vielen Bettler [Dokument 5, 6] hatten ihre Bettelherbergen.
Natürlich gab es neben den Bürgern die "Einwohner" einer Stadt, die vielen Knechte und Mägde und die unehelich Geborenen, doch sie durften darauf hoffen, daß ihre Nachkommen in der zweiten oder dritten Generation das Bürgerrecht erwerben konnten. Außerhalb jeder Gemeinschaft, die Sicherheit bis in den Tod bot, standen die Vagabunden, die fahrenden Leute, die Schinder, die Henker. Die Juden lebten - trotz des Königsschutzes - am Rande der christlich geprägten Gruppierungen. Daß Stadt und Land dem jeweiligen Landesherrn unterstand, versteht sich sogar bei dem eingangs zitierten Abzählvers von selbst.
Im nördlichen Hessen war dieser Herr für einige Klöster der König / Kaiser, der Landgraf oder das Erzstift St. Stephan in Mainz. Die Städte im nördlichen Hessen waren schon im Hochmittelalter zu Territorialstädten mit einer weitgehenden Selbstverwaltung geworden, die Bauern hingegen lebten unter unterschiedlichen Herrschaften; der Grundherr konnte der Landgraf direkt sein, der Deutsche Orden, ein Kloster, eine Kirche oder ein Landadeliger.
Da die Sozialgeschichte und ihre Themen sich im weitesten Sinne in den Lehrplänen für den Unterricht über das Mittelalter der Sekundarstufe I. und II. widerspiegeln, soll das vorliegende Quellenheftes nach wichtigen Bevölkerungsgruppen gegliedert werden: und
- Der Bauernstand (Grundherrschaft und Dorfgemeinschaft)
- Die Stadt (Stadtrecht und Stadtwirtschaft)
- Die Klöster (kultureller, wirtschaftlicher u. sozialer Mittelpunkt ihrer Landschaft)
- Der Adel
1. Der Bauernstand
Auch im nördlichen Hessen läßt sich die Entwicklung vom freien Bauern, der sein Gut als Leihgut einem Grundherrn gab, um vom Kriegsdienst befreit zu werden und als Gegenleistung Schutz zu erhalten, und die Einrichtung der Fronhöfe mit abhängigen Bauernstellen verfolgen. Doch unsere Quellenbeispiele sind aus der Zeit nach der großen Umgestaltung der Verwaltung auf dem Land im 13. Jahrhundert gewählt, als Ämter entstanden, in denen Verwaltungs- und Gerichtsobliegenheiten vereinigt waren: Gericht Frauenberg / Ebsdorf oder Seelheim. Die von Grundherren abhängigen Bauern erhielten in der Landsiedelleihe ein Gut in Zeitpacht, d.h. für einige Jahre, oder in Erbpacht und zahlten einen vereinbarten Zins in Geld oder Naturalien [Dokument 7 , 8, 9]. Der Deutsche Orden war einer der großen Grundherren im Westen und Osten Marburgs, teilweise sogar mit eigener Gerichtsbarkeit, vergleichbar den adeligen Gerichten, die bis 1806 bestanden haben.
Seit dem Hochmittelalter herrschte die Dreifelderwirtschaft (Wechsel von Winterfrucht, Sommerfrucht und Brache) bis ins 19. Jahrhundert vor. Der Kampf der jeweiligen Dorfgemeinschaft um die Allmende und um die Nutzung des Waldes und der Gewässer [Dokument 10] zog sich durch die Jahrhunderte [Dokument 11 und 12]. Erste Ansätze der staatlichen Fürsorge lassen sich in der Reformationszeit und nach dem Dreißigjährigem Krieg unter dem Landgrafen Wilhelm VI. entdecken; am Ende des 18. Jahrhunderts versuchte Landgraf Friedrich II. im Sinne des aufgeklärten Absolutismus mit der "Gesellschaft des Ackerbaus" systematisch eine Verbesserung des Bodens und besonders der Wollerzeugung zu erreichen [Dokument 13, 14].
2. Die Stadt
Die Städte im nördlichen Hessen haben ihren Ursprung in Bischofssitzen, Königspfalzen und Burgen der Adeligen. Neugründungen im Hochmittelalter gehen meist auf einen landesherrlichen Akt zurück, was sich an der Neustadt Frankenberg besonders gut zeigen läßt [Dokument 15 und 16]. Den Bürgern der Städte gelang es im Laufe des 13. Jahrhunderts meist, den Einfluß des landesherrlichen Schultheißen und in einem nächsten Schritt den der mächtigen patrizischen Schöffen zurückzudrängen [Dokument 17, 18]. Manche dieser Städte erhielten eine rechtliche Stellung, die fast der einer Freien Reichsstadt gleichkam. Bei landesherrlichen Eingriffen, besonders im finanziellen Sektor, konnte es zu regelrechten Aufständen kommen [Dokument 19].
Die eigentliche Macht einer Stadt zeigte sich in ihrer Position als Wirtschaftsfaktor: Die Stadtmauer mußte errichtet und gegebenenfalls verteidigt werden, das Münz- und Marktrecht bedingten eine Marktordnung [Dokument 20], die auch den Verkehr mit den in die Stadt strömenden Bauern und fremden Händlern regelte. Der Einfluß der Zünfte und Gilden basierte auf Zunftbriefen, die sie von dem Landesherrn bestätigt bekamen [Dokument 21 und 22] und die ihnen eine großen Einfluß innerhalb der städtischen Verwaltung und der Wirtschaft zuwies. Die Zunftordnungen von 1693 und deren Erneuerungen von 1730 bedeuteten jedoch den Sieg des absoluten Staates über die bis dahin selbständigen Zünfte, die bei jedem Regierungswechsel diese Ordnungen erneuern lassen mußten [Dokument 23].
Das Bürgerrecht konnte nur der erwerben, der in den Augen der Bürgerschaft dieser Ehre wert war [Dokument 24 und 25].
Die Städte erhielten die Braugerechtigkeit - Bierbrauen war kein zünftiges Gewerbe - vom Landesherrn verliehen und achteten streng darauf, daß nur sie das platte Land mit Bier versorgen durften. Ähnlich umstritten war die Pflicht, Getreide nur in bestimmten Mühlen mahlen zu lassen. Erst 1496 erwarb der Landgraf die Getreide-, Loh- und Walkmühlen Marburgs vom Deutschen Orden; nur noch der dritte Teil der Marburger Einwohner mußte in der Elwinsmühle des Deutschen Ordens, des früheren Besitzers aller Marburger Mühlen, mahlen lassen (Bannmühlen / Mühlenbann).
Die Stadtgemeinde kümmerte sich auch um die Einrichtung von Siechenhäusern, deren Existenz zumeist auf Stiftungen
beruhte [Dokument 27, 28, 29]. Genauso wichtig war die Einrichtung und Unterhaltung von Schulen, seien es Trivialschulen (von trivium d.h. Grammatik, Rhetorik u. Dialektik) oder Lateinschulen [Dokument 30]. Das Privileg zur Errichtung einer Hohen Schule, einer Universität, hingegen konnte nur der Kaiser oder Papst verleihen. Den intellektuellen Rang einer Universitäts- oder Residenz-Stadt machten auch ihre Druckereien aus, die wiederum zumeist die Unterstützung, später das Privileg des jeweiligen Landesherrn nötig hatten.
Nicht übersehen sollte man auch die vielen religiösen Bruderschaften, die Keimzellen der Zünfte, z.B. die Kalandsbruderschaften, die sich um eine würdige Beerdigung ihrer Mitglieder kümmerten, oder die Bruderschaften, die Prozessionen und geistliche Spiele organisierten.
3. Die Klöster, ihre kulturelle, wirtschaftliche, soziale und politische Bedeutung
Das Mittelalter ist ohne Wirkung der Klöster nicht zu denken. Sie waren der kulturelle, wirtschaftliche, soziale und häufig genug auch politische Mittelpunkt ihrer Landschaft. Die frühen Orden (Benediktiner/Zisterzienser) bauten ihre Klöster bewußt außerhalb einer Ortschaft, rodeten die Wälder, kultivierten den Boden und betrieben Landwirtschaft mit Hilfe von Konversen. Die Predigerorden (Franziskaner/Dominikaner) hingegen suchten ihre Aufgabe in den mittelalterlichen Städten, wie im 15. Jahrhundert der "Schulorden" der Brüder vom Gemeinsamen Leben. Das nördliche Hessen kann sich zudem rühmen, daß der erfolgreichste und einflußreichste Missionar Deutschlands, der Angelsachse Winfried/Bonifatius, in Hessen (721) die Klöster Amöneburg, Fritzlar und (744) Fulda gründete, wo er begraben ist [Dokument 31]. Bonifatius bewirkte auch die Bindung der Kirche des Frankenreichs an Rom [Dokument 32]. Bedeutende Klöster im nördlichen Hessen waren außer den genannten das Kloster Hersfeld, das Stift Ahnaberg in Kassel, Kloster Haina, Georgenberg bei Frankenberg u.a. Der geistliche Ritterorden, der Deutsche Orden, gehörte mit seiner Kommende Marburg zu den größten Grundherren im nördlichen Hessen und konnte seine - wenn auch nach der Reformation eingeschränkte - Reichsunmittelbarkeit bis 1807 wahren. Der Besitz der Klöster an Land und Häusern basierte auf Schenkungen durch die Landgrafen, durch Adelige, Bürger und Bauern zu deren Seelenheil [Dokument 33]. Außer der Vermittlung der christlichen Glaubenswahrheiten, sahen die Mönche und Nonnen auch eine Aufgabe in der Versorgung von Kranken [Dokument 34 und 35] und in der Bewahrung und Vermittlung der Kultur. Mit der Reformation wurden in der Landgrafschaft Hessen die Klöster aufgehoben [Dokument 36], nur die Reichsabtei Fulda im Osten des heutigen Hessen und die Klöster, die auf dem Territorium des Mainzer Erzbistums lagen (Amöneburg und Fritzlar), blieben bestehen.
Außerhalb dieser Schutz gewährenden Gemeinschaften lebten die Juden. Sie standen zwar unter Königsschutz, doch in der Regel hatte der König das Regal an die Landesherren und die Städte verliehen. Die frühen Judenordnungen [Dokument 38] zeigen, daß die Gesetzgeber von einer Hoffnung auf Bekehrung ausgingen und Judenpredigten anordneten. Da die Juden keinen Grundbesitz erwerben und kein zünftiges Gewerbe betreiben durften, waren sie abhängig vom Wohlwollen der jeweiligen Gemeinde oder des Landesherrn [Dokument 37]. Erst das 19. Jahrhundert brachte ihnen die Emanzipation.
4. Bergbau und Salinen
Rechtlich weder in den bäuerlichen noch in den städtischen Bereich fallen die vielen Bergwerke, die schon im Mittelalter im nördlichen Hessen bezeugt sind; sie gehörten zu den Regalien, d.h. den Rechten des Landesherrn und wurden an Gewerkschaften verliehen. Das Goldwaschen in der Eder wurde genauso hoffnungsvoll betrieben wie der Silberbergbau bei Gladenbach. Von größerer Bedeutung hingegen war die Schürfung von Eisenerz (Biedenkopf) und dessen kunstvolle Verarbeitung in den Hütten
und Hämmern des Klosters Haina in Fischbach und Neubau [Dokument 39]. Die Kupfergruben bei Frankenberg (Thalitter) waren wenig ertragreich, besser stand es um den Kupferbergbau im Richelsdorfer Gebirge. Hier, im Osten Hessens, wurde auch Alabaster abgebaut, der sich zu Grabdenkmälern, Altartischen oder Reliefs mit weltlichen Themen kunstvoll verarbeiten ließ [Dokument 40].
Ergiebig und wichtig waren hingegen die Produkte der Salinen in Soden-Allendorf. Die Pfänner, d.h. die Patrizier von Allendorf, hatten anfangs allein das Salzwerk als Lehen vom Landgrafen inne; unter Landgraf Philipp entstand neben der Pfännerseite eine Fürstenseite. 1540 wurden die Pfänneranteile auf Dauer an den Landgrafen verpachtet, der fortan allein das Salzwerk betrieb und das Salz verkaufte (Regiebetrieb). Der Verkauf des hessischen Salzes bedeutete für die Landgrafschaft eine wesentliche Einnahmequelle. Fremdes Salz wurde deshalb mit hohen Einfuhrzöllen belegt [Dokument 41].
5. Der Adel
Der nordhessische Raum wurde - wie die Herzogtümer Bayern, Sachsen oder Lothringen - im frühen Mittelalter von Grafen, die auch richterliche Funktionen innehatten, im Auftrag des Königs verwaltet. Diese edelfreien bzw. freien Grundherren (die Konradiner) sicherten das wichtige Durchgangsland Hessen für den König. Der behandelte Raum gehörte überwiegend zur Erzdiözese Mainz, die planmäßig ihren weltlichen Herrschaftsbereich auszudehnen bestrebt war und anfangs mit den Landgrafen von Thüringen (den Ludowingern) in bestem Einvernehmen stand. Erst als seit dem 12. Jahrhundert beider Interessen im hessischen Raum aufeinanderstießen, kam es zu kriegerischen Auseinandersetzungen, die sich zu Anfang des 15. Jahrhunderts zugunsten der seit 1248 unabhängigen Landgrafschaft Hessen entschieden [Dokument 42]. Auch die adeligen Herrschaften und geistlichen Grundherrschaften hatten nach und nach die Oberherrschaft der Landgrafen, die 1292 in den Reichsfürstenstand erhoben wurden, anerkannt und den Landgrafen als ihren Lehnsherrn akzeptiert. Nur der Grafschaft Waldeck gelang es in der Frühen Neuzeit, die Lehnshoheit abzuschütteln. Die Beziehung zwischen Lehnsherr und Lehnsmann [Dokument 43, 44 und 45] stellt neben der dinglichen Seite, der Gewährung eines Lehens, ein Hilfs- und Treueverhältnis auf Gegenseitigkeit dar; der Mann muß dem Herrn unter Eid versprechen, ihm "treu" und "hold" zu sein, der Herr bietet dem Mann "Schutz und Schirm".
Zeugen dieser Zeit gibt es reichlich, obgleich vieles durch Umbauten und Kriege zerstört worden ist. So findet man Burgen der Landadeligen [Dokument 46 und 47] und der Landgrafen [Dokument 48], die noch ihr mittelalterliches Gepräge bewahrt haben. Die Residenz des Landgrafen in Marburg [Dokument 49] besitzt einen der größten gotischen Säle; zahlreiche Epitaphe der Adelsfamilien in ihren Patronatskirchen zeugen von der Macht und dem Selbstbewußtsein dieser alten Familien. Die Grablege der Landgrafen im Südchor der Elisabethkirche vereinigt Grabdenkmäler von der frühen Gotik bis zum Manierismus [Dokument 40].
Kostbare Waffen in den einschlägigen Museen erinnern an die Hauptbeschäftigungen des Adels, an die Heerfahrt oder die Hoffahrt, an Turniere und vor allem an die Jagd im waldreichen Hessen. Selbst in alten Sagen spiegelt sich die Macht der Ritter im Bild der Riesen [Dokument 50].
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