26. Die Verfassung - Programm und Wirklichkeit: 6.5. Die Schulreform
Auch im hessischen Schulwesen war nach dem Krieg vor allem Krisenmanagement angesagt. Nach ihrer Wiedereröffnung im Herbst 1945 hatten die Schulen nicht nur mit Raumnot zu kämpfen, weil viele Schulgebäude zerstört oder beschlagnahmt waren, sondern auch mit Lehrermangel auf Grund der von der amerikanischen Militärregierung angeordneten radikalen Entnazifizierungsmaßnahmen; wegen des Zustroms von Flüchtlingskindern waren damals 65 bis 85 Schüler in einer Klasse keine Seltenheit. Gleichwohl waren Schulreformer im Hessischen Kultusministerium von Anfang an bemüht, das Schulleben grundlegend neu zu gestalten. Früher als in anderen Ländern der amerikanischen Besatzungszone wurde in Hessen die Schülermitverwaltung eingeführt und den Schülern ermöglicht, Schulzeitungen herauszugeben. Ein Erlaß von Kultusminister Schramm (CDU) vom Mai 1946 verbot die „körperliche Züchtigung" von Schülern, während zum Beispiel im benachbarten Bayern die Prügelstrafe noch in den 50er Jahren als bewährtes Erziehungsmittel galt.
Auch Kultusminister Erwin Stein (1947-1950) war bemüht, das autoritäre Klima an den deutschen Schulen aufzulockern. In diesem Sinne forderte er im September 1948 neue Formen des Schullebens: Dieses sollte „dem natürlichen Arbeits- und Familienleben angepaßt werden und in nichts mehr dem Drill einer Kadettenanstalt" gleichen. In dem Bestreben, den Abiturienten nicht als weltfremden Gebildeten, sondern als aktiven und kenntnisreichen Staatsbürger aus der Schule zu entlassen, erließ Stein 1948 neue Lehrpläne für das Fach „Politischer Unterricht". Um dafür geeignete Lehrkräfte ausbilden zu können, schuf wenig später Hessen als erstes Bundesland Lehrstühle für „Politische Wissenschaften" an den Universitäten. Sie wurden mit herausragenden Persönlichkeiten wie Eugen Ko-gon (TH Darmstadt) und Walter Abendroth (Universität Marburg) besetzt.
Wichtige Neuerungen hatte auch die Hessische Verfassung gebracht. An allen staatlichen Schulen und Hochschulen herrschte nach Art. 59 künftig Schulgeldfreiheit; kein begabtes Kind sollte weiterführende Schulen und Universitäten nur deshalb nicht besuchen können, weil die Eltern das Schulgeld nicht aufbringen konnten. Um begabten Kindern aus finanziell schwächergestellten Familien gleiche Bildungschancen zu geben, sollten Erziehungsbeihilfen gezahlt werden. Auch Lernmittel wie z. B. Schulbücher waren den Schülern unentgeltlich zur Verfügung zu stellen (Art. 59 HV).
Ferner bestimmte die Hessische Verfassung in Artikel 56: „An allen hessischen Schulen werden die Kinder aller religiösen Bekenntnisse und Weltanschauungen in der Regel gemeinsam erzogen werden." Daß damit die Gemeinschaftsschule und nicht die Konfessionsschule zur Regelschule erklärt wurde, entsprach eigentlich einer alten hessischen Tradition. Bereits seit 1817 gingen die Kinder aller Konfessionen im Herzogtum Nassau gemeinsam zur Schule, seit 1874 auch im Großherzogtum Hessen(-Darmstadt). Nur in Kurhessen war noch — wie in Preußen üblich — bis 1933 die Konfessionsschule die Regel; anschließend waren auch hier die meisten Konfessionsschulen durch Gemeinschaftsschulen ersetzt worden.
Leicht war der CDU der Verzicht auf Konfessionsschu-
len nicht gefallen. Sie hatte sich in der Verfassungberatenden Versammlung zunächst dafür eingesetzt, daß es dem Votum der Eltern überlassen bleiben sollte, ob am jeweiligen Ort eine Konfessionsschule, eine weltliche oder eine christliche Gemeinschaftsschule (bei der der Unterricht auch über den Religionsunterricht hinaus vom christlichen Gedankengut geprägt werden sollte) errichtet sein sollte.
Im Verfassungskompromiß stimmte schließlich die CDU der Gemeinschaftsschule als Regelschule zu, die SPD gab dagegen dem Wunsch der CDU nach Zulassung von privaten (d.h. auch konfessionellen) weiterführenden Schulen nach. Daß in Hessen das staatliche Schulwesen nun aus Gemeinschaftsschulen bestand, erleichterte auf dem Lande auch die Integration der Flüchtlingskinder, die oft einer anderen Konfession als die einheimische Bevölkerung angehörten. Während in benachbarten Ländern wie Rheinland-Pfalz die Konfessionsschulen (unter ihnen viele Zwergschulen auf dem Lande) erst später mühsam abgeschafft wurden, hatte Hessen mit der Entscheidung für die Gemeinschaftsschule als Regelschule die Grundlage für ein modernes Schulwesen gelegt, auf dem spätere Schulreformen aufbauen konnten.
Doch standen im Jahr 1947 noch weitere Schulreformen zur Debatte. Im Juni verabschiedete der Alliierte Kontrollrat in Berlin eine Direktive, die eine grundlegende Reform des deutschen Bildungswesens verlangte. Zwar war die Forderung nach Schulgeld- und Lernmittelfreiheit durch die hessische Verfassung schon erfüllt. Doch andere Wünsche der Alliierten nahmen die bildungspolitische Diskussion späterer Jahrzehnte in der Bundesrepublik vorweg. Dazu gehörte neben der Forderung nach Hochschulausbildung für alle Lehrer auch die Einführung der Einheitsschule (Gesamtschule).
Anlaß für diese Forderung der amerikanischen Militärregierung war eine grundlegende Kritik am traditionellen deutschen Schulsystem:
Die Dreigliederung des Schulsystems in Volks-, mittlere und höhere Schulen nach dem 4. Schuljahr entspreche nicht dem Charakter einer „offenen" demokratischen Gesellschaft. Da es ab dem 5. Schuljahr kaum Möglichkeiten gebe, den Schultyp zu wechseln, gerieten die Schüler sozusagen in Sackgassen: Mit der Schulwahl im Alter von 10 Jahren entscheide sich bereits, ob ein Kind später Beamter im höheren oder im mittleren Dienst werde, je nachdem, ob es aufs Gymnasium wechsele oder auf der Grundschule bliebe.
Im Jahr 1948 kam es daraufhin zu dem berühmt gewordenen hessischen Schulkonflikt, als die amerikanische Militärregierung Kultusminister Stein ultimativ aufforderte, innerhalb weniger Wochen als ersten Schritt zur „Einheitsschule" die sechsjährige - statt der vierjährigen -Grundschule einzuführen. Dieses Verlangen führte zu einer leidenschaftlichen öffentlichen Diskussion. Nicht nur die katholische und die evangelische Kirche, sondern auch die Universitäten und selbstverständlich die Gymnasiallehrer protestierten auf das energischste. Der Landesverband Hessen für Höhere Schulen erklärte, die bisherige Dreiteilung des Schulwesens sei „biologisch begründet" und daher nicht reformierbar.
Auch Kultusminister Stein konnte und wollte dem plötzlichen amerikanischen Ultimatum nicht nachkommen, schließlich wäre es Sache des gewählten Landtages gewesen, ein entsprechendes Schulgesetz zu beschließen. Um Zeit zu gewinnen, verschob Stein den Schuljahresbeginn um sechs Monate auf Anfang 1949. Die amerikanische Militärregierung wiederum scheute letztlich vor einer Anordnung kraft Besatzungshoheit zurück und bestand nicht länger auf einer Reform, von der große Teile des deutschen Bürgertums fürchteten, nun würde auch noch das — wie man glaubte - bestens bewährte deutsche Schulsystem in den Strudel des Zusammenbruchs gezogen.
Das Scheitern dieses Reformversuchs bestätigte auch amerikanische Kritiker, die schon frühzeitig vor der Utopie gewarnt hatten, daß man ein Bildungssystem exportieren könne. Denn es zeigte sich, daß die amerikanischen Erziehungsoffiziere am erfolgreichsten waren, wenn sie pragmatisch vorgingen und ihre Anregungen von deutschen Kultusbehörden und Schulreformern aufgegriffen werden konnten, weil sie auch im Trend deutscher Reformvorstellungen lagen. Dies war in bemerkenswerter Weise bei der Neugestaltung des Schullebens zum Beispiel durch Einführung des Politischen Unterrichts und der Schülermitverwaltung der Fall; hier begegneten sich deutsche und amerikanische Bildungspolitiker in dem gemeinsamen Ziel, deutsche Schüler künftig nicht nur zu Bildungsbürgern, sondern auch zu Staatsbürgern zu erziehen.
Auch Kultusminister Erwin Stein (1947-1950) war bemüht, das autoritäre Klima an den deutschen Schulen aufzulockern. In diesem Sinne forderte er im September 1948 neue Formen des Schullebens: Dieses sollte „dem natürlichen Arbeits- und Familienleben angepaßt werden und in nichts mehr dem Drill einer Kadettenanstalt" gleichen. In dem Bestreben, den Abiturienten nicht als weltfremden Gebildeten, sondern als aktiven und kenntnisreichen Staatsbürger aus der Schule zu entlassen, erließ Stein 1948 neue Lehrpläne für das Fach „Politischer Unterricht". Um dafür geeignete Lehrkräfte ausbilden zu können, schuf wenig später Hessen als erstes Bundesland Lehrstühle für „Politische Wissenschaften" an den Universitäten. Sie wurden mit herausragenden Persönlichkeiten wie Eugen Ko-gon (TH Darmstadt) und Walter Abendroth (Universität Marburg) besetzt.
Wichtige Neuerungen hatte auch die Hessische Verfassung gebracht. An allen staatlichen Schulen und Hochschulen herrschte nach Art. 59 künftig Schulgeldfreiheit; kein begabtes Kind sollte weiterführende Schulen und Universitäten nur deshalb nicht besuchen können, weil die Eltern das Schulgeld nicht aufbringen konnten. Um begabten Kindern aus finanziell schwächergestellten Familien gleiche Bildungschancen zu geben, sollten Erziehungsbeihilfen gezahlt werden. Auch Lernmittel wie z. B. Schulbücher waren den Schülern unentgeltlich zur Verfügung zu stellen (Art. 59 HV).
Ferner bestimmte die Hessische Verfassung in Artikel 56: „An allen hessischen Schulen werden die Kinder aller religiösen Bekenntnisse und Weltanschauungen in der Regel gemeinsam erzogen werden." Daß damit die Gemeinschaftsschule und nicht die Konfessionsschule zur Regelschule erklärt wurde, entsprach eigentlich einer alten hessischen Tradition. Bereits seit 1817 gingen die Kinder aller Konfessionen im Herzogtum Nassau gemeinsam zur Schule, seit 1874 auch im Großherzogtum Hessen(-Darmstadt). Nur in Kurhessen war noch — wie in Preußen üblich — bis 1933 die Konfessionsschule die Regel; anschließend waren auch hier die meisten Konfessionsschulen durch Gemeinschaftsschulen ersetzt worden.
Leicht war der CDU der Verzicht auf Konfessionsschu-
len nicht gefallen. Sie hatte sich in der Verfassungberatenden Versammlung zunächst dafür eingesetzt, daß es dem Votum der Eltern überlassen bleiben sollte, ob am jeweiligen Ort eine Konfessionsschule, eine weltliche oder eine christliche Gemeinschaftsschule (bei der der Unterricht auch über den Religionsunterricht hinaus vom christlichen Gedankengut geprägt werden sollte) errichtet sein sollte.
Im Verfassungskompromiß stimmte schließlich die CDU der Gemeinschaftsschule als Regelschule zu, die SPD gab dagegen dem Wunsch der CDU nach Zulassung von privaten (d.h. auch konfessionellen) weiterführenden Schulen nach. Daß in Hessen das staatliche Schulwesen nun aus Gemeinschaftsschulen bestand, erleichterte auf dem Lande auch die Integration der Flüchtlingskinder, die oft einer anderen Konfession als die einheimische Bevölkerung angehörten. Während in benachbarten Ländern wie Rheinland-Pfalz die Konfessionsschulen (unter ihnen viele Zwergschulen auf dem Lande) erst später mühsam abgeschafft wurden, hatte Hessen mit der Entscheidung für die Gemeinschaftsschule als Regelschule die Grundlage für ein modernes Schulwesen gelegt, auf dem spätere Schulreformen aufbauen konnten.
Doch standen im Jahr 1947 noch weitere Schulreformen zur Debatte. Im Juni verabschiedete der Alliierte Kontrollrat in Berlin eine Direktive, die eine grundlegende Reform des deutschen Bildungswesens verlangte. Zwar war die Forderung nach Schulgeld- und Lernmittelfreiheit durch die hessische Verfassung schon erfüllt. Doch andere Wünsche der Alliierten nahmen die bildungspolitische Diskussion späterer Jahrzehnte in der Bundesrepublik vorweg. Dazu gehörte neben der Forderung nach Hochschulausbildung für alle Lehrer auch die Einführung der Einheitsschule (Gesamtschule).
Anlaß für diese Forderung der amerikanischen Militärregierung war eine grundlegende Kritik am traditionellen deutschen Schulsystem:
Die Dreigliederung des Schulsystems in Volks-, mittlere und höhere Schulen nach dem 4. Schuljahr entspreche nicht dem Charakter einer „offenen" demokratischen Gesellschaft. Da es ab dem 5. Schuljahr kaum Möglichkeiten gebe, den Schultyp zu wechseln, gerieten die Schüler sozusagen in Sackgassen: Mit der Schulwahl im Alter von 10 Jahren entscheide sich bereits, ob ein Kind später Beamter im höheren oder im mittleren Dienst werde, je nachdem, ob es aufs Gymnasium wechsele oder auf der Grundschule bliebe.
Im Jahr 1948 kam es daraufhin zu dem berühmt gewordenen hessischen Schulkonflikt, als die amerikanische Militärregierung Kultusminister Stein ultimativ aufforderte, innerhalb weniger Wochen als ersten Schritt zur „Einheitsschule" die sechsjährige - statt der vierjährigen -Grundschule einzuführen. Dieses Verlangen führte zu einer leidenschaftlichen öffentlichen Diskussion. Nicht nur die katholische und die evangelische Kirche, sondern auch die Universitäten und selbstverständlich die Gymnasiallehrer protestierten auf das energischste. Der Landesverband Hessen für Höhere Schulen erklärte, die bisherige Dreiteilung des Schulwesens sei „biologisch begründet" und daher nicht reformierbar.
Auch Kultusminister Stein konnte und wollte dem plötzlichen amerikanischen Ultimatum nicht nachkommen, schließlich wäre es Sache des gewählten Landtages gewesen, ein entsprechendes Schulgesetz zu beschließen. Um Zeit zu gewinnen, verschob Stein den Schuljahresbeginn um sechs Monate auf Anfang 1949. Die amerikanische Militärregierung wiederum scheute letztlich vor einer Anordnung kraft Besatzungshoheit zurück und bestand nicht länger auf einer Reform, von der große Teile des deutschen Bürgertums fürchteten, nun würde auch noch das — wie man glaubte - bestens bewährte deutsche Schulsystem in den Strudel des Zusammenbruchs gezogen.
Das Scheitern dieses Reformversuchs bestätigte auch amerikanische Kritiker, die schon frühzeitig vor der Utopie gewarnt hatten, daß man ein Bildungssystem exportieren könne. Denn es zeigte sich, daß die amerikanischen Erziehungsoffiziere am erfolgreichsten waren, wenn sie pragmatisch vorgingen und ihre Anregungen von deutschen Kultusbehörden und Schulreformern aufgegriffen werden konnten, weil sie auch im Trend deutscher Reformvorstellungen lagen. Dies war in bemerkenswerter Weise bei der Neugestaltung des Schullebens zum Beispiel durch Einführung des Politischen Unterrichts und der Schülermitverwaltung der Fall; hier begegneten sich deutsche und amerikanische Bildungspolitiker in dem gemeinsamen Ziel, deutsche Schüler künftig nicht nur zu Bildungsbürgern, sondern auch zu Staatsbürgern zu erziehen.
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