19. Die Verfassung entsteht: 5.1. Die Verfassungsberatende Landesversammlung
Am 30. Juni 1946 waren die hessischen Bürger zur Wahl der Verfassungberatenden Landesversammlung aufgerufen. Damit wurde ein weiterer wichtiger Schritt auf dem Wege zur deutschen Selbständigkeit getan. Zwar lag die staatliche Souveränität weiterhin bei der amerikanischen Besatzungsmacht. Aber es war absehbar, daß künftige hessische Regierungen gegenüber den Amerikanern eine stärkere Stellung haben würden, wenn sie sich auf eine Landesverfassung und ein gewähltes Parlament stützen könnten.
Aus den Wahlen zur Verfassungberatenden Landesversammlung ging die SPD - wie schon bei den Kommunalwahlen - als stärkste Partei hervor. Sie erhielt 44,3% der Stimmen und 42 Mandate; zweitstärkste Partei wurde die CDU mit 37,3% der Stimmen und 35 Mandaten. Es folgten die KPD mit 9,7% der Stimmen und 7 Mandaten und die Liberaldemokratische Partei (LDP) mit 8,1% der Stimmen und 6 Mandaten. Damit verfügte die SPD, die schon im März eine eigene Verfassungskommission — unter anderem mit Professor Ludwig Bergsträsser, Georg August Zinn, Friedrich Caspary, Fritz Hoch, Elisabeth Seibert und Adolf Arndt - gebildet und eigene Entwürfe vorbereitet hatte, über eine günstige Ausgangsposition: Sie konnte bei den Verfassungsberatungen sowohl mit der CDU als auch mit der KPD eine Mehrheit bilden.
Am 15. Juli 1946 trat die Verfassungberatende Versammlung zum ersten Mal in Wiesbaden zusammen. Von Anfang an standen die Beratungen unter einem starken Zeitdruck, hatte doch die Militärregierung bereits den 30. September als Abschlußtermin festgesetzt. Hinzu kamen wenig erfreuliche äußere Bedingungen: Das Plenum mußte zunächst nacheinander in verschiedenen Schulen tagen und konnte erst gegen Ende der Beratungen in das Wiesbadener Stadtschloß - den heutigen Sitz des Landtages - einziehen. Fraktionssitzungen fanden in dem im Krieg beschädigten Taunushotel in der Rheinstraße statt, wo die auswärtigen Abgeordneten auf Feldbetten und in drangvoller Enge auch übernachten mußten. Ein ausreichender und eingespielter Hilfsapparat, wie ihn ein Parlament benötigt, konnte erst allmählich notdürftig aufgebaut werden. Neben ständigem Papiermangel ist dies der Grund, daß Protokolle über die Beratungen nur unvollständig und ungenau überliefert sind.
Die Verhandlungen zeichneten sich vor allem durch ihren sachlichen und fairen Stil aus. Hier zeigte sich das für jene Zeit charakteristische Solidaritätsgefühl, das Abgeordnete auch verschiedener Fraktionen verband. Einige kannten sich noch aus Konzentrationslagern, alle aber waren unter dem Eindruck der gerade überwundenen NS-Diktatur in besonderem Maße zur Zusammenarbeit bereit.
Bei ihren Beratungen konnte sich die Versammlung auf einen vorläufigen Entwurf des „Vorbereitenden Verfassungsausschusses" stützen, den Ministerpräsident Professor Geiler im Februar berufen hatte. Unter Federführung des bekannten Staatsrechtlers Professor Jellinek hatte dieser einen Verfassungsentwurf vorwiegend bürgerlich-liberaler Prägung erarbeitet. Es bleibt das Verdienst der Verfassungberatenden Versammlung, diesen Entwurf wesentlich verändert und in entscheidenden Punkten neu gestaltet zu haben. Das Ergebnis war bemerkenswert: Die Hessische Verfassung ging namentlich im sozialpolitischen Bereich weit über die bisherige liberale Verfassungstradition in Deutschland hinaus und legte damit den Grundstein zu der sozialstaatlichen Tradition der Bundesrepublik.
Im Mittelpunkt der Verfassungsberatungen standen zunächst die Grundrechte, die die Abgeordneten bewußt als gedanklichen Gegenpol zum Nationalsozialismus begriffen. Besonderen Wert legten sie darauf, daß die Grundrechte im Gegensatz zur Weimarer Verfassung weitgehend als unabänderlich bezeichnet und dadurch spätere Einschränkungen durch den Gesetzgeber ausgeschlossen wurden.
Die Abgeordneten, die noch das Scheitern der Weimarer Republik gegenüber Nationalsozialismus und Weltwirtschaftskrise vor Augen hatten, trafen auch weitere Vorkehrungen, um die künftige Demokratie weniger anfällig gegen politische und ökonomische Krisen zu machen. Diesem Ziel diente unter anderem das faktische Verbot eines Ermächtigungsgesetzes (Art. 118 HV), wie es Hitler im März 1933 den Weg zur Diktatur geebnet hatte. Besondere Bedeutung erlangte in der folgenden Zeit auch die Einsetzung eines Staatsgerichtshofes, der über Grundrechtsverletzungen und die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen zu entscheiden hatte (Art. 130 ff. HV).
Während in diesen Fragen weitgehende Einmütigkeit bestand, brachen in der folgenden Zeit grundsätzliche Konflikte zwischen den Arbeiterparteien und den bürgerlichen Parteien auf. Um die Demokratie widerstandsfähiger
gegen politische und wirtschaftliche Krisen zu machen, wollten CDU und EDP durch eine berufsständische Zweite Kammer ein, wie sie hofften, stabiles Gegengewicht zu dem gewählten Parlament schaffen; damit sollte gegebenenfalls das Abgleiten einer Mehrheitspartei „in den Machtrausch" (Abg. Euler, EDP) verhindert werden. Die SPD lehnte diesen Vorschlag ab. Sie wollte der Gefahr wirtschaftlicher und politischer Krisen durch die Konzeption der Wirtschaftsdemokratie begegnen, die vor allem die Möglichkeit staatlicher Wirtschaftslenkung, die Sozialisierung von Schlüsselindustrien und die Mitbestimmung von Betriebsräten vorsah.
Die Auseinandersetzungen zwischen bürgerlichen und Arbeiterparteien über diese unterschiedlichen Konzeptionen führten dazu, daß zunächst die SPD gemeinsam mit der KPD in Kampfabstimmungen einen Verfassungsentwurf durchsetzte, der unter anderem konkrete sozialpolitische und auch manche sozialistischen Elemente enthielt.
So betonte der Abschnitt über „Soziale und wirtschaftliehe Rechte und Pflichten", daß „die Sozial- und Wirtschaftsordnung auf der Anerkennung der Würde und der Persönlichkeit des Menschen beruht" — im Gegensatz zur Ausbeutung der Arbeit unter dem NS-Regime durch Verbot von freien Gewerkschaften, Dienstverpflichtungen und Zwangsarbeit. Es folgten konkrete Bestimmungen zur Regelung des Arbeits- und Wirtschaftslebens, von denen hier die wichtigsten erwähnt seien:
- der Achtstundentag wird wieder eingeführt, der während der Novemberrevolution 1918 zwischen Unternehmern und Gewerkschaften vereinbart, später aber wieder abgeschafft worden war,
- Arbeitnehmern soll ein bezahlter Urlaub von mindestens zwölf Arbeitstagen gewährt werden; in der Weimarer Republik hatten Arbeitnehmer meist einen weit geringeren Urlaubsanspruch gehabt,
- Frauen und Jugendliche haben für gleiche Tätigkeit und gleiche Leistung Anspruch auf gleichen Lohn,
- den Betriebsvertretungen wird die gleichberechtigte Mitbestimmung in sozialen, personellen und wirtschaftlichen Fragen des Betriebes zuerkannt,
- das Streikrecht wird anerkannt, die Aussperrung dagegen für rechtswidrig erklärt,
- der Mißbrauch wirtschaftlicher Freiheit zu monopolistischer Machtzusammenballung und politischer Macht wird verboten,
- die Bergwerke, die eisen- und stahlerzeugenden Betriebe, die Energiewirtschaft und bestimmte Verkehrsbetriebe sollen sozialisiert werden.
Auch wichtige Fragen des Schulwesens und des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche, die zwischen den Arbeiterparteien und den bürgerlichen Parteien strittig waren, wurden von der linken Mehrheit in Kampfabstimmungen durchgesetzt, z.B. die Gemeinschaftsschule statt der Konfessionsschule sowie die Schulgeldfreiheit für alle Schüler und Studenten.
Aus den Wahlen zur Verfassungberatenden Landesversammlung ging die SPD - wie schon bei den Kommunalwahlen - als stärkste Partei hervor. Sie erhielt 44,3% der Stimmen und 42 Mandate; zweitstärkste Partei wurde die CDU mit 37,3% der Stimmen und 35 Mandaten. Es folgten die KPD mit 9,7% der Stimmen und 7 Mandaten und die Liberaldemokratische Partei (LDP) mit 8,1% der Stimmen und 6 Mandaten. Damit verfügte die SPD, die schon im März eine eigene Verfassungskommission — unter anderem mit Professor Ludwig Bergsträsser, Georg August Zinn, Friedrich Caspary, Fritz Hoch, Elisabeth Seibert und Adolf Arndt - gebildet und eigene Entwürfe vorbereitet hatte, über eine günstige Ausgangsposition: Sie konnte bei den Verfassungsberatungen sowohl mit der CDU als auch mit der KPD eine Mehrheit bilden.
Am 15. Juli 1946 trat die Verfassungberatende Versammlung zum ersten Mal in Wiesbaden zusammen. Von Anfang an standen die Beratungen unter einem starken Zeitdruck, hatte doch die Militärregierung bereits den 30. September als Abschlußtermin festgesetzt. Hinzu kamen wenig erfreuliche äußere Bedingungen: Das Plenum mußte zunächst nacheinander in verschiedenen Schulen tagen und konnte erst gegen Ende der Beratungen in das Wiesbadener Stadtschloß - den heutigen Sitz des Landtages - einziehen. Fraktionssitzungen fanden in dem im Krieg beschädigten Taunushotel in der Rheinstraße statt, wo die auswärtigen Abgeordneten auf Feldbetten und in drangvoller Enge auch übernachten mußten. Ein ausreichender und eingespielter Hilfsapparat, wie ihn ein Parlament benötigt, konnte erst allmählich notdürftig aufgebaut werden. Neben ständigem Papiermangel ist dies der Grund, daß Protokolle über die Beratungen nur unvollständig und ungenau überliefert sind.
Die Verhandlungen zeichneten sich vor allem durch ihren sachlichen und fairen Stil aus. Hier zeigte sich das für jene Zeit charakteristische Solidaritätsgefühl, das Abgeordnete auch verschiedener Fraktionen verband. Einige kannten sich noch aus Konzentrationslagern, alle aber waren unter dem Eindruck der gerade überwundenen NS-Diktatur in besonderem Maße zur Zusammenarbeit bereit.
Bei ihren Beratungen konnte sich die Versammlung auf einen vorläufigen Entwurf des „Vorbereitenden Verfassungsausschusses" stützen, den Ministerpräsident Professor Geiler im Februar berufen hatte. Unter Federführung des bekannten Staatsrechtlers Professor Jellinek hatte dieser einen Verfassungsentwurf vorwiegend bürgerlich-liberaler Prägung erarbeitet. Es bleibt das Verdienst der Verfassungberatenden Versammlung, diesen Entwurf wesentlich verändert und in entscheidenden Punkten neu gestaltet zu haben. Das Ergebnis war bemerkenswert: Die Hessische Verfassung ging namentlich im sozialpolitischen Bereich weit über die bisherige liberale Verfassungstradition in Deutschland hinaus und legte damit den Grundstein zu der sozialstaatlichen Tradition der Bundesrepublik.
Im Mittelpunkt der Verfassungsberatungen standen zunächst die Grundrechte, die die Abgeordneten bewußt als gedanklichen Gegenpol zum Nationalsozialismus begriffen. Besonderen Wert legten sie darauf, daß die Grundrechte im Gegensatz zur Weimarer Verfassung weitgehend als unabänderlich bezeichnet und dadurch spätere Einschränkungen durch den Gesetzgeber ausgeschlossen wurden.
Die Abgeordneten, die noch das Scheitern der Weimarer Republik gegenüber Nationalsozialismus und Weltwirtschaftskrise vor Augen hatten, trafen auch weitere Vorkehrungen, um die künftige Demokratie weniger anfällig gegen politische und ökonomische Krisen zu machen. Diesem Ziel diente unter anderem das faktische Verbot eines Ermächtigungsgesetzes (Art. 118 HV), wie es Hitler im März 1933 den Weg zur Diktatur geebnet hatte. Besondere Bedeutung erlangte in der folgenden Zeit auch die Einsetzung eines Staatsgerichtshofes, der über Grundrechtsverletzungen und die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen zu entscheiden hatte (Art. 130 ff. HV).
Während in diesen Fragen weitgehende Einmütigkeit bestand, brachen in der folgenden Zeit grundsätzliche Konflikte zwischen den Arbeiterparteien und den bürgerlichen Parteien auf. Um die Demokratie widerstandsfähiger
gegen politische und wirtschaftliche Krisen zu machen, wollten CDU und EDP durch eine berufsständische Zweite Kammer ein, wie sie hofften, stabiles Gegengewicht zu dem gewählten Parlament schaffen; damit sollte gegebenenfalls das Abgleiten einer Mehrheitspartei „in den Machtrausch" (Abg. Euler, EDP) verhindert werden. Die SPD lehnte diesen Vorschlag ab. Sie wollte der Gefahr wirtschaftlicher und politischer Krisen durch die Konzeption der Wirtschaftsdemokratie begegnen, die vor allem die Möglichkeit staatlicher Wirtschaftslenkung, die Sozialisierung von Schlüsselindustrien und die Mitbestimmung von Betriebsräten vorsah.
Die Auseinandersetzungen zwischen bürgerlichen und Arbeiterparteien über diese unterschiedlichen Konzeptionen führten dazu, daß zunächst die SPD gemeinsam mit der KPD in Kampfabstimmungen einen Verfassungsentwurf durchsetzte, der unter anderem konkrete sozialpolitische und auch manche sozialistischen Elemente enthielt.
So betonte der Abschnitt über „Soziale und wirtschaftliehe Rechte und Pflichten", daß „die Sozial- und Wirtschaftsordnung auf der Anerkennung der Würde und der Persönlichkeit des Menschen beruht" — im Gegensatz zur Ausbeutung der Arbeit unter dem NS-Regime durch Verbot von freien Gewerkschaften, Dienstverpflichtungen und Zwangsarbeit. Es folgten konkrete Bestimmungen zur Regelung des Arbeits- und Wirtschaftslebens, von denen hier die wichtigsten erwähnt seien:
- der Achtstundentag wird wieder eingeführt, der während der Novemberrevolution 1918 zwischen Unternehmern und Gewerkschaften vereinbart, später aber wieder abgeschafft worden war,
- Arbeitnehmern soll ein bezahlter Urlaub von mindestens zwölf Arbeitstagen gewährt werden; in der Weimarer Republik hatten Arbeitnehmer meist einen weit geringeren Urlaubsanspruch gehabt,
- Frauen und Jugendliche haben für gleiche Tätigkeit und gleiche Leistung Anspruch auf gleichen Lohn,
- den Betriebsvertretungen wird die gleichberechtigte Mitbestimmung in sozialen, personellen und wirtschaftlichen Fragen des Betriebes zuerkannt,
- das Streikrecht wird anerkannt, die Aussperrung dagegen für rechtswidrig erklärt,
- der Mißbrauch wirtschaftlicher Freiheit zu monopolistischer Machtzusammenballung und politischer Macht wird verboten,
- die Bergwerke, die eisen- und stahlerzeugenden Betriebe, die Energiewirtschaft und bestimmte Verkehrsbetriebe sollen sozialisiert werden.
Auch wichtige Fragen des Schulwesens und des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche, die zwischen den Arbeiterparteien und den bürgerlichen Parteien strittig waren, wurden von der linken Mehrheit in Kampfabstimmungen durchgesetzt, z.B. die Gemeinschaftsschule statt der Konfessionsschule sowie die Schulgeldfreiheit für alle Schüler und Studenten.
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