9. Zusammenstehen in der Not: 2.5. Aufnahme der Vertriebenen
Eine folgenschwere Entscheidung der Siegermächte sollte die ohnehin schon in allen Lebensbereichen angespannte Lage noch verschärfen: Auf der Potsdamer Konferenz Juli/August 1945 stimmten sie der Ausweisung der Deutschen aus Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn zu. Laut Kontrollratsbeschluß sollten insgesamt 6,6 Millionen Deutsche ausgewiesen werden. Entsprechend einer Vereinbarung zwischen den süddeutschen Ländern entfielen auf Hessen 607500 Personen. Allein im Jahr 1946 erreichten 374 Transporte mit fast 400000 Ausgewiesenen Hessen. Die weitaus meisten kamen aus der Tschechoslowakei.
Da die Städte aufgrund der starken Zerstörungen keinen Wohnraum zur Verfügung stellen konnten, mußte die Masse der Flüchtlinge in ländliche Gebiete gelenkt werden. Bereits im Oktober 1945 wurden in den Kreisen ehrenamtliche Flüchtlingsfürsorgeausschüsse gebildet, die Unterbringung, Versorgung, berufsmäßige Erfassung und Arbeitseinteilung, kulturelle und soziale Betreuung vorbereiten sollten. Als die Transporte nicht abrissen, war durch guten Willen der Bevölkerung und Improvisation allein nicht mehr viel zu bewegen. Ein Staatskommissar und hauptamtliche Bezirks- und Kreisflüchtlingskommissare übernahmen die wichtigsten Aufgaben.
Die in Zügen zu etwa l 000 Personen eintreffenden Flüchtlinge wurden zunächst in Auffangstationen von Rot-kreuz-Schwestern mit dem Nötigsten versorgt, registriert, ärztlich untersucht und schließlich in die Aufnahmeorte gebracht. Hier wies man ihnen im günstigsten Fall direkt Privatquartiere zu. Die vorübergehende Unterbringung in Turnhallen, stillgelegten Fabriken oder Kreisflüchtlingslagern ließ sich aber nicht immer vermeiden.
Die Aufnahme der Vertriebenen führte nun auch zu einer dramatischen Verschärfung der Wohnungssituation auf dem Lande und in den kleineren Städten. Nach einer Volkszählung war im Oktober 1946 jeder fünfte hessische Bürger „zugezogen". Zu diesem Zeitpunkt gab es darüber hinaus 200000 Evakuierte aus den hessischen Großstädten auf dem Lande, so daß fast jeder vierte hessische Bürger nur über eine provisorische Bleibe verfügte. In Bensheim etwa wuchs die Bevölkerung gegenüber 1933 im Jahr 1947 um 39%. Die Einwohnerzahl der von Kriegseinwirkungen kaum betroffenen typischen oberhessischen Landstadt Hungen erhöhte sich gegenüber dem Vorkriegsstand 1947 auf das Doppelte. Der Kreis Waldeck mußte im gleichen Zeitraum eine Steigerung um 47,5% verkraften. Kam es in der ersten Zeit noch zu freiwilligen Belegungen, so wurden bald die Wohnungsämter tätig und wiesen, im Zweifelsfall unter Androhung von Zwangsmitteln, Quartiere zu. Die zugezogenen Flüchtlinge blieben dennoch zunächst schlechter gestellt. So mußten sich zu Beginn des Jahres 1947 statistisch 1,8 Einheimische ein Zimmer teilen, während mehr als drei Flüchtlingen nur ein Wohnraum zur Verfügung stand.
Von der Not besonders betroffen waren Mütter, Kinder und alte Menschen. Schon bei der Flucht trugen die Hauptlast die Frauen. Häufig war der Ehemann (noch) nicht aus dem Krieg zurückgekehrt oder gefallen. Nach Erhebungen setzten sich die frühen Transporte im Jahr 1946 zu 51% aus Frauen und nur zu 26% aus Männern zusammen. Kirchen und Wohlfahrtsverbände versuchten nach Kräften, die Ankömmlinge zu unterstützen. Das Großhessische Hilfswerk etwa veranstaltete Sammlungen, es gab Wohltätigkeitsveranstaltungen, aber auch unzählige kleine Dienste im Stillen. Eine wesentliche Rolle spielten großzügige Auslandsspenden, mit deren Hilfe Kleidung, Lebensmittel und Medikamente verteilt werden konnten.
Die hessische Flüchtlingspolitik legte besonderen Wert auf die rasche Eingliederung der „Neubürger". Die Vertriebenen sollten bei der Planung und in der Verwaltung beteiligt werden, auch an Selbsthilfe beim Wohnungsbau war gedacht. Nach diesen Prinzipien, die maßgeblich von dem Flüchtlingsbeauftragten der Staatskanzlei und früheren Rüdesheimer Landrat Dr. Nahm entworfen worden waren, arbeitete das Anfang 1947 gegründete Landesamt für Flüchtlinge.
Gemessen an den Umständen wurde in Hessen viel geleistet. Nach Umfragen äußerten sich hier im März 1947 61% der Flüchtlinge zufrieden über die Behandlung durch die einheimische Bevölkerung (in Bayern nur 37%). Gleichwohl waren Spannungen zwischen Flüchtlingen und Einheimischen kaum zu vermeiden. Unterbringung undVersorgung sicherzustellen, erforderte mitunter herbe Opfer auf beiden Seiten. Für die Flüchtlinge, die zum großen Teil auf dem Land untergebracht waren, ließen sich dort nur schwer Arbeitsplätze finden. Trotz der schwierigen Ausgangslage versuchten sie tatkräftig, neue Existenzen zu gründen. Viele waren bereit, auch berufsfremde Tätigkeiten aufzunehmen, andere gingen daran, eigene Betriebe aufzubauen.
Da die Städte aufgrund der starken Zerstörungen keinen Wohnraum zur Verfügung stellen konnten, mußte die Masse der Flüchtlinge in ländliche Gebiete gelenkt werden. Bereits im Oktober 1945 wurden in den Kreisen ehrenamtliche Flüchtlingsfürsorgeausschüsse gebildet, die Unterbringung, Versorgung, berufsmäßige Erfassung und Arbeitseinteilung, kulturelle und soziale Betreuung vorbereiten sollten. Als die Transporte nicht abrissen, war durch guten Willen der Bevölkerung und Improvisation allein nicht mehr viel zu bewegen. Ein Staatskommissar und hauptamtliche Bezirks- und Kreisflüchtlingskommissare übernahmen die wichtigsten Aufgaben.
Die in Zügen zu etwa l 000 Personen eintreffenden Flüchtlinge wurden zunächst in Auffangstationen von Rot-kreuz-Schwestern mit dem Nötigsten versorgt, registriert, ärztlich untersucht und schließlich in die Aufnahmeorte gebracht. Hier wies man ihnen im günstigsten Fall direkt Privatquartiere zu. Die vorübergehende Unterbringung in Turnhallen, stillgelegten Fabriken oder Kreisflüchtlingslagern ließ sich aber nicht immer vermeiden.
Die Aufnahme der Vertriebenen führte nun auch zu einer dramatischen Verschärfung der Wohnungssituation auf dem Lande und in den kleineren Städten. Nach einer Volkszählung war im Oktober 1946 jeder fünfte hessische Bürger „zugezogen". Zu diesem Zeitpunkt gab es darüber hinaus 200000 Evakuierte aus den hessischen Großstädten auf dem Lande, so daß fast jeder vierte hessische Bürger nur über eine provisorische Bleibe verfügte. In Bensheim etwa wuchs die Bevölkerung gegenüber 1933 im Jahr 1947 um 39%. Die Einwohnerzahl der von Kriegseinwirkungen kaum betroffenen typischen oberhessischen Landstadt Hungen erhöhte sich gegenüber dem Vorkriegsstand 1947 auf das Doppelte. Der Kreis Waldeck mußte im gleichen Zeitraum eine Steigerung um 47,5% verkraften. Kam es in der ersten Zeit noch zu freiwilligen Belegungen, so wurden bald die Wohnungsämter tätig und wiesen, im Zweifelsfall unter Androhung von Zwangsmitteln, Quartiere zu. Die zugezogenen Flüchtlinge blieben dennoch zunächst schlechter gestellt. So mußten sich zu Beginn des Jahres 1947 statistisch 1,8 Einheimische ein Zimmer teilen, während mehr als drei Flüchtlingen nur ein Wohnraum zur Verfügung stand.
Von der Not besonders betroffen waren Mütter, Kinder und alte Menschen. Schon bei der Flucht trugen die Hauptlast die Frauen. Häufig war der Ehemann (noch) nicht aus dem Krieg zurückgekehrt oder gefallen. Nach Erhebungen setzten sich die frühen Transporte im Jahr 1946 zu 51% aus Frauen und nur zu 26% aus Männern zusammen. Kirchen und Wohlfahrtsverbände versuchten nach Kräften, die Ankömmlinge zu unterstützen. Das Großhessische Hilfswerk etwa veranstaltete Sammlungen, es gab Wohltätigkeitsveranstaltungen, aber auch unzählige kleine Dienste im Stillen. Eine wesentliche Rolle spielten großzügige Auslandsspenden, mit deren Hilfe Kleidung, Lebensmittel und Medikamente verteilt werden konnten.
Die hessische Flüchtlingspolitik legte besonderen Wert auf die rasche Eingliederung der „Neubürger". Die Vertriebenen sollten bei der Planung und in der Verwaltung beteiligt werden, auch an Selbsthilfe beim Wohnungsbau war gedacht. Nach diesen Prinzipien, die maßgeblich von dem Flüchtlingsbeauftragten der Staatskanzlei und früheren Rüdesheimer Landrat Dr. Nahm entworfen worden waren, arbeitete das Anfang 1947 gegründete Landesamt für Flüchtlinge.
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