6. Zusammenstehen in der Not: 2.2. Kampf ums tägliche Brot
Der demokratische Neubeginn nach dem Krieg erfolgte unter den ungünstigsten wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen. Vor allem der Lebensmittelmangel stellte die verantwortlichen deutschen Stellen vor kaum überwindbare Probleme. Die Menschen hungerten, und die heimische Landwirtschaft konnte sie bei weitem nicht ausreichend ernähren. Die westlichen Besatzungszonen waren von ihren angestammten Kornkammern im Osten abgeschnitten. Für Hessen kam erschwerend hinzu, daß Rheinhessen als wichtige Lieferregion für das Rhein-Main-Gebiet ausfiel, da es nun zur französischen Zone gehörte. Nachteilig wirkte sich vor allem aus, daß vergleichsweise unrentable, Viehzucht betreibende Kleinbetriebe sich weit in der Überzahl befanden und daß die Nutzflächen durch immer geringere Düngergaben in den Kriegsjahren ausgelaugt, z.T. auch ganz stillgelegt worden waren. Außerdem fehlten Maschinen, Ersatzteile, Benzin, Dünger und Arbeitskräfte. Die hessische Landwirtschaft konnte unter diesen Umständen bestenfalls 900-1000 Kalorien pro Person und Tag erzeugen - weit weniger als die Hälfte des normalen Bedarfs. Mangel herrschte jetzt sogar in ländlichen Gebieten Hessens, und so war für die Situation 1945 der Ausspruch eines Landrats bezeichnend: „Aus meinem Kreis kommt kein Sack Mehl und keine Maus heraus".
Da auch an Lebensmittelimporte wegen abgeschotteter Grenzen sowie fehlender Devisen nicht zu denken war, zumal in ganz Europa Lebensmittelmangel herrschte, schien eine gerechte Verteilung der wenigen Nahrungsmittel nur durch die Weiterführung der staatlichen Zwangsbewirtschaftung möglich. So wurden alle produzierten Lebensmittel beim Landwirt erfaßt, die Weiterverarbeitung kontrolliert und mittels Lebensmittelkarten an die Bevölkerung verteilt. Die Bemessung der Rationen richtete sich nach Altersklassen, nach der Möglichkeit der Selbstversorgung und danach, ob man zu einem besonders belasteten Personenkreis gehörte (Arbeiter, Schwerarbeiter, werdende und stillende Mütter). Kamen die ersehnten Lebensmittel schließlich in den Läden zur Ausgabe, hieß das oft erst einmal: geduldig Schlangestehen!
Eine grundlegende Besserung war nicht in Sicht. Im März 1946 rief General Clay die amerikanische Öffentlichkeit um Hilfe an: Krankheit und Unterernährung würden die deutsche Bevölkerung arbeitsunfähig machen; die Militärregierung könne Seuchen und Unzufriedenheit nicht verhindern, geschweige denn hoffen, mit einem hungernden Volk eine Demokratie aufzubauen. Doch trotz nun langsam anlaufender amerikanischer Hilfsprogramme erhielt der hessische „Normalverbraucher" auch im Jahresdurchschnitt 1946 und 1947 nur Tagesrationen von rund 1300 Kalorien. Zeitweise gab es nur noch 100 g Fleisch und 37,5 g Fett pro Woche.
Für besonders Bedürftige richteten Hilfsorganisationen schon 1945 Volksküchen ein. 1946 ergaben Wiegeaktionen auf Straßen, in Schulen, Heimen usw., daß vor allem Schulkinder unter Mangelernährung litten. Berichten zufolge kamen häufig 30% bis 50% ohne Frühstück in die Schule. Die Lage besserte sich erst mit der sogenannten Hoover-Speisung. Von April 1947 an konnten nun mit Nahrungsmitteln aus amerikanischen Armeebeständen landesweit für gut 300000 Kinder täglich eine Zusatzmahlzeit ausgegeben werden.
Erleichterungen brachten auch die CARE-Pakete, die Bedürftige über Hilfsorganisationen oder von Privatleuten aus den USA erhielten. Im Umfang bedeutender als GARE waren die Hilfen der Gemeinschaftsaktion CRALOG (Council of Relief Agencies Licensed for Operation in Ger-many), die amerikanische Wohlfahrtseinrichtungen gegründet hatten. CRALOG lieferte größere Nahrungsmittel- oder Medikamentenkontingente z. B. an Flüchtlingslager oder sonstige karitative Einrichtungen und Projekte, die von deutschen oder ausländischen Hilfsorganisationen betreut wurden.
Natürlich versuchte jeder, der dazu in der Lage war, die kargen Rationen aufzubessern: durch das Sammeln von Wildfrüchten oder Bucheckern, die gegen Öl eingetauscht werden konnten, durch Hamstern auf dem Land oder Handel auf dem Schwarzmarkt.
Überfüllte „Hamstererzüge" brachten Tausende von Städtern auf das Land, die verzweifelt bei den Bauern anklopften und versuchten, Eßbares einzutauschen. Während der Erntezeiten strömten sie auf die Äcker und „stoppelten" nach Kartoffeln oder lasen die nach der Ernte liegengebliebenen Ähren auf. Die Stadtbevölkerung blickte neidvoll auf die vergleichsweise gut genährten Bauern. Trotz nicht endender Appelle an die Landwirte, alle Kräfte zu mobilisieren, und scharfer Kontrollen durch Ernährungsämter und Polizei blieben die Ablieferungen der Landwirtschaft hinter den Erwartungen zurück. Auch die amerikanische Besatzungsmacht setzte die Landwirte unter Druck und forderte die Rückführung der Viehbestände, damit die Futterbauflächen - z. B. für Kartoffeln - genutzt werden könnten. Das Viehabbauprogramm scheiterte aber im wesentlichen am Widerstand der Bauern, die angesichts minimaler Fleisch- und Fettrationen gerade hier durch Schwarzverkauf beste Gewinne erzielen konnten. Weiter sollte eine Bodenreform die Grundlage dafür schaffen, möglichst vielen Menschen, vor allem Heimatlosen und Vertriebenen, Gartenland zur Selbstversorgung zur Verfügung zu stellen und mehr Flächen als bisher landwirtschaftlich zu nutzen. Am 15. Oktober 1946 wurde das „Gesetz zur Beschaffung von Siedlungsland und zur Bodenreform" verkündet, durch das ein Jahr später immerhin rund 44 000 Familien mit Land für Gärten und Kleinsiedlungen versorgt werden konnten.
Die Ernährungskrise wurde erst 1948/49 endgültig überwunden. Durch die Auswirkungen der Währungsreform von 1948 verbesserten sich die Produktionsbedingungen der Landwirte allmählich. Hinzu kam - endlich - eine gute einheimische Ernte. Mit der schrittweisen Aufhebung der Lebensmittelrationierung endete auch der Schwarzmarkt.
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