5. Kampf um politischen Einfluß
V. Kampf um politischen Einfluß
Bittschriften und Proteste
Trotz ihrer äußerst schwierigen materiellen und seelischen Lage verhielten sich die Heimatvertriebenen zwar grundsätzlich diszipliniert und friedfertig, dennoch versuchten sie auf ihre unbefriedigende Lage aufmerksam zu machen und Verbesserungen für sich selbst und andere zu erreichen. Sie schrieben unzählige Beschwerden und Bittschriften an Bürgermeister, Landräte, den Staatsbeauftragten oder den Ministerpräsidenten. Die Neuankömmlinge aus dem Osten hatten zwar ihre Heimat verloren, nicht jedoch ihr Selbstbewußtsein. Auf Versammlungen machten sie auf ihr Schicksal aufmerksam und protestierten gegen unbillig erscheinende Mißstände. Daß ihre Geduld aber auch Grenzen hatte, zeigt ein spektakulärer Fall in Frankfurt.
Als im Juni 1950 Flüchtlinge und Vertriebene, die im Rahmen der Umsiedlungsaktion des Bundes von Schleswig-Holstein nach Frankfurt kamen, in den Rödelheimer Bunker eingewiesen werden sollten, weigerten sie sich dort einzuziehen. Frauen und Männer protestierten gemeinsam und hatten Erfolg: Sie erhielten daraufhin bessere Quartiere zugewiesen. Ihr Verhalten war durch lange Lageraufenthalte in Schleswig-Holstein mitbedingt. In Hessen ist es sonst zu solch aufsehenerregenden Ereignissen nicht gekommen. Hier gab es früh Mitwirkungsmöglichkeiten für Flüchtlingsvertreter.
Flüchtlingsvertrauensleute
Die Bildung politischer Vereinigungen war den Flüchtlingen zunächst von der Militärregierung aus der Befürchtung heraus untersagt, daß sie ein gefährliches Unruhepotential bilden könnten. Um trotz des Koalitionsverbots den Vertriebenen Mitsprachemöglichkeiten in Ausschüssen zu geben, wurden in der ersten Durchführungsverordnung zum Flüchtlingsgesetz vom 18. September 1947 Flüchtlingsvertrauensleute als offizielle Vertreter dieser Gruppe anerkannt. Mit dem Flüchtlingsgesetz wurden Flüchtlingsbeiräte in der Gemeinde, im Kreis, beim Regierungspräsidenten und im Landesflüchtlingsamt gebildet. Über die Vertrauensleute sollten die Beiräte den Kontakt zu den Flüchtlingen suchen. Ein Mangel dieses Vertretungsmodells war aber, daß die Mitglieder des Flüchtlingsbeirats von den politischen Parteien vorgeschlagen wurden und nicht aus dem Kreis der Vertrauensleute gewählt wurden. Die Vertrauensleute wurden seitens der Landräte und auch der politischen Parteien nicht nur für überflüssig, sondern geradezu für schädlich gehalten, weil sie ihrer Auffassung nach die organische Eingliederung der Flüchtlinge behindern und das Ansehen der von den Parteien vorgeschlagenen Flüchtlingsausschußmitglieder unterminieren würden. Massiv vorgetragen wurden diese Einwände nach den Kommunalwahlen vom April 1948, bei denen auch Flüchtlinge auf Listen der zugelassenen Parteien in die Kreistage gewählt worden waren. Der Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft hessischer Landkreise, Landrat Treibert, fürchtete sogar, daß sich als Gegenreaktion in den Landkreisen "Vereinigungen zur Abwehr der Bestrebungen der Flüchtlinge und Evakuierten" bilden könnten.
Die Bedeutung der Vertrauensleute lag darin, daß sie landesweit gewählt waren und so die Flüchtlinge in jeder Gemeinde Ansprechpartner hatten. Hinzu kommt, daß für viele die Wahl in dieses Amt der Beginn eines langen politischen Engagements war. Gewählt wurden als Flüchtlingsvertrauensleute in Hessen übrigens fast nur Männer: von über 2600 Vertrauensleuten waren lediglich 90 Frauen, was einem Anteil von 3% entspricht. Unter den Stellvertretern waren es 14%. Dem entspricht das Wahlergebnis in der Stadt Wiesbaden: Als Vertrauensleute wurden 18 Männer gewählt, unter den Stellvertretern war eine Frau. Es lag nicht daran, daß Frauen nicht bereit gewesen wären, dieses Amt zu übernehmen. Im Wahlkreis Wiesbaden-Alt z.B. kandidierten ebensoviele Frauen wie Männer.
Mit dem Erstarken der Flüchtlingsvereine und -verbände und der Gründung einer Flüchtlingspartei nach der Konstituierung der Bundesrepublik hatten die Vertrauensleute ihre Funktion verloren. Die Vertrauensleutewahlen fanden 1949 zum letzten Mal statt.
Erste Flüchtlingsorganisationen
Trotz des Verbots der Militärregierung bildeten die Flüchtlinge schon im Jahre 1946 Gruppen auf Ortsebene, wobei die Flüchtlingsvertrauensleute oft die treibenden Kräfte waren. Die Gruppen trugen verschiedene Bezeichnungen. In Nordhessen entstanden "Notgemeinschaften der Heimatvertriebenen" sowie "Betreuungsstellen für Flüchtlinge und Ausgewiesene" und in anderen Teilen des Landes "Hilfsdienste der Heimatvertriebenen". Die Motive, die zur Gruppenbildung führten, waren unterschiedlich und hingen stark von der Person des Gründers ab. Unter ihnen waren viele sudetendeutsche Sozialdemokraten. Eine große Rolle spielten auch christliche Hilfsvereine, so z.B. in Mainz-Kostheim die Christliche Arbeitsgemeinschaft Heimatvertriebener. Da die Lebensbedingungen in den Gemeinden stark von Entscheidungen der Kreisverwaltung bestimmt wurden, schlössen sich diese Vereine bald auch auf Kreisebene zusammen. Der Schwerpunkt der frühen Organisationsbildung lag eindeutig in den Landgebieten Nordhessens, d.h. eben dort, wohin die Vertriebenen 1946 zum großen Teil gelangt waren. Auch unter den Vorsitzenden der Kreisvereine gab es Anhänger unterschiedlicher politischer Richtung. (Dok. 23)
Fast ein Jahr dauerte es, bis die amerikanische Militärregierung die Bildung von Vertriebe-nenorganisationen auf Orts- und Kreisebene zu wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Zwecken genehmigte. Die Aufhebung dieses Verbots lag auch im Sinne der hessischen Flüchtlingspolitik. Das Konzept zur Eingliederung der Flüchtlinge, das der Rüdesheimer Landrat Dr. Peter Paul Nahm entwickelt hatte, beruhte stark auf der Mitarbeit der Flüchtlinge sowohl bei der Planung und in der Verwaltung als auch bei praktischer Arbeit wie z.B. der Selbsthilfe beim Wohnungsbau. Diese Überzeugungen setzte er auch weitgehend bei der Kompetenzzuteilung für das neuzugründende Landesamt für Flüchtlinge durch. Es wurde bereits im November 1946 vom Kabinett beschlossen, doch erst 1947 eingerichtet, weil die Militärregierung die Entscheidung in einer so wichtigen Angelegenheit der ersten gewählten hessischen Regierung überlassen wollte. Wenn dabei von einer besonderen hessischen Lösung gesprochen wird, so ist sie erstens dadurch gekennzeichnet, daß das Kommissariatswesen aufgegeben und "normale Zuständigkeiten" eingeführt wurden: Der Flüchtlingskommissar für den Regierungsbezirk wurde dem Regierungspräsidenten unterstellt und der Kreisflüchtlingskommissar dem Landrat. Zweitens zeichnet sich die hessische Lösung dadurch aus, daß neben Flüchtlingsvertretern auch Vertreter der einheimischen Interessenverbände und Hilfsorganisationen zu den Beratungen des zur Unterstützung des Staatsbeauftragten geschaffenen Landesbeirats zugezogen wurden. Eine gemischte Zusammensetzung des Beirats zwinge - so erhoffte es Nahm - zum Kennenlernen der wechselseitigen Schwierigkeiten und vollziehe so psychologisch bereits eine Voraussetzung zur Eingliederung. Von der Übertragung der Kompetenzen der Kreisflüchtlingskommissare an die Landräte erwartete er zwar angesichts der schwierigen Situation auch keine durchschlagende Verbesserung für die Lage der Flüchtlinge. Es schien ihm aber der einzige Weg, auf dem überhaupt Verbesserungen erreicht werden konnten.
Die Hoffnungen, die Nahm auf die Landräte gesetzt hatte, erfüllten sich nur zum Teil. Schon nach vier Monaten übte Nahm heftige Kritik. Nur zwei Landräte hätten ihn eingeladen und ihm Gelegenheit gegeben, vor Flüchtlingsvertretern und Bürgermeistern in ihrem Kreis zu sprechen. Manche hätten offenbar parteipolitische Hemmungen, was 1945/46 noch nicht wahrzunehmen gewesen sei: Wenn sie sich für die Flüchtlinge einsetzten, so fürchteten sie, könnte das ihre einheimischen Wähler verprellen.
Unter den Flüchtlingen wuchs indessen die Kritik über die geringen politischen Mitwirkungsmöglichkeiten, zumal nicht einmal die Flüchtlingsbeiräte auf Landes-, Regierungsbezirks- oder Kreisebene von den Flüchtlingen gewählt werden konnten, sondern ernannt wurden. Sie forderten, daß ihre Vertreter in den Beiräten aus dem Kreis der Flüchtlingsvertrauensleute genommen werden sollten.
Gründung des Landesverbandes der Heimatvertriebenen
Während Flüchtlingsvereinigungen auf Kreisebene bereits 1947 entstanden, brauchte die Bildung eines Landesverbandes mehr Zeit. Nach mehreren Anläufen wurde im Februar 1948 die Arbeitsgemeinschaft der Vorsitzenden der Kreisflüchtlingsorganisationen (AGO) gebildet. Josef Walter, vor 1933 Stadtrat in Bodenbach (Sudeten) und dort führend am Aufbau der Angestelltengewerkschaft und -krankenkassen beteiligt, übernahm den Vorsitz. Die führenden Vertreter der Kreisverbände, die zunächst nicht dem vom Arbeitsminister ernannten Landesbeirat für Flüchtlingswesen angehörten - dem höchsten und mit Abstand einflußreichsten Selbstverwaltungsorgan der Flüchtlinge - forderten jetzt eine angemessene Vertretung. Während Nahm die ersten Beiratsmitglieder im Zuge seiner Umfrage bei den Landräten unter kompetenten Wirtschafts- und Kulturexperten gefunden hatte, suchte er bald auch über den Beirat die Organisierung der Flüchtlinge in eine einheitliche Bahn zu lenken. Dazu gehörte, daß er kompromißbereite Flüchtlingsverbandsvertreter kooptieren ließ. (Dok. 24)
Im Laufe des Jahres 1948 erwuchs in den Kreisverbänden zunehmend Kritik an der Landes-flüchtlingsverwaltung und dem Landesflüchtlingsbeirat. Damit verbunden war die Forderung, daß die Flüchtlinge selber die Beiratsmitglieder wählen und die bisherigen Vertreter zurücktreten sollten. Bei dem Konflikt ging es auch darum, daß einige Flüchtlingsvertreter sich von einer Flüchtlingspartei mehr Wirkung erhofften als von einem parteipolitisch neutralen Verband. Nahm und Josef Walter gelang es in Verhandlungen, die Lage zu entspannen.
Zwar versagte die Militärregierung einem Landesverband weiter ihre Zustimmung. Dennoch wurde am 17. Dezember 1948 im Frankfurter Operncafe der "Landesverband der Heimatvertriebenen" gegründet. (Dok. 25) Beim zweiten Verbandstag 1950 in Fulda stieg Wenzel Jaksch, der ehemalige Führer der sudetendeutschen Sozialdemokratie, dem die Alliierten bislang die Einreise nach Westdeutschland untersagt hatten, aktiv in die Ver-bandsarbeit ein. Er wurde bald Leiter des Landesflüchtlingsamtes, später Bundestagsabgeordneter und Bundesvorsitzender des Verbandes der Heimatvertriebenen. Auf dem Verbandstag in Frankfurt 1951 verkündete der hessische Ministerpräsident Zinn den 120 000 Heimatvertriebenen auf dem Gelände hinter der Messehalle, daß die Landesregierung den "Landesverband der Heimatvertriebenen" als Partner der Landesregierung anerkenne.
Heimatvertriebene und politische Parteien
Während sich die Militärregierung bei der Zulassung von parteipolitisch neutralen Flüchtlingsvereinigungen nach und nach liberaler verhielt, blieb das Verbot einer Flüchtlingspartei bis zur Gründung der Bundesrepublik bestehen. Ein Teil der Flüchtlinge schloß sich den bestehenden Parteien an. So erhielt die SPD durch die zahlreichen sudetendeutschen Sozialdemokraten starken Zulauf, und auch CDU und LDP konnten zahlreiche Mitglieder gewinnen. Doch der Anteil der Flüchtlinge, die sich keiner Partei anschlössen und auch mit keiner sympathisierten, war hoch. Neben dem allgemeinen Mißtrauen gegenüber Parteien und Politik - einer damals in der Bevölkerung weitverbreiteten Reaktion auf die NS-Zeit - kam bei den Flüchtlingen hinzu, daß sie in den bestehenden Parteien in erster Linie Interessenvertretungen der Einheimischen sahen. Einem Teil der Flüchtlinge und ihren Führern schien es ohnehin am besten, wenn die Flüchtlinge sich in einem parteipolitisch neutralen Einheitsverband landes- bzw. später bundesweit organisierten. Davon war auch Josef Walter überzeugt, der den Landesverband fast zwei Jahrzehnte leitete, sowie Peter Paul Nahm, der als Leiter des Landesflüchtlingsamtes ebenfalls eine parteipolitische Zersplitterung der Flüchtlinge verhindern wollte. Mit der zunehmenden Unzufriedenheit über die ihrer Ansicht nach zu langsamen Verbesserungen in der Wohnungssituation und der steigenden Arbeitslosigkeit wuchs allerdings unter den Flüchtlingen der Wunsch nach einer Flüchtlingspartei.
Der BHE
Der Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten (BHE), die erste überregionale Flücht-iingspartei, wurde 1950 in Schleswig-Holstein gegründet. Der BHE fand in Hessen rasch viele Mitglieder und Wähler. Nach der Landtagswahl von 1954 war er das "Zünglein an der Waage" und entschied sich für eine Koalition mit der SPD, die bis zum Ausscheiden des BHE aus dem Landtag 1966 hielt. Der aus dem Sudetenland stammende Landwirtschaftsminister Gustav Hacker wurde neben dem Ministerpräsidenten Georg-August Zinn zum populärsten hessischen Politiker. Zinn hielt an ihm auch fest, als die SPD 1962 die absolute Mehrheit errang. Auch das Wirtschaftsministerium war in der Hand des BHE. Das Dilemma des BHE war, daß er sich mit seinen sozialpolitischen Erfolgen selbst das Wasser abgrub. Seine treuesten Wähler waren heimatvertriebene Bauern und alte Menschen auf dem Lande, während Vertriebene, die Arbeitsplatz und Wohnung in der Stadt gefunden hatten, seltener BHE wählten und sich übrigens häufig auch vom Vereinsgeflecht der Vertriebenen fernhielten.
Der BHE hat durch seine engagierte Mitarbeit am Hessenplan (s. Tafel 31) mit dafür gesorgt, daß viele Vertriebene bessere Wohnungen und angemessene Arbeitsplätze erhielten. In seiner politischen Arbeit konzentrierte er sich auf Eingliederungshilfen für Vertriebene. In vielen Bundesländern wandte er sich seit Mitte der 50er Jahre von der Sozialpolitik ab und setzte sich für das Heimatrecht und gegen den Verzicht auf deutsche Gebiete ein. In Hessen überwog allerdings immer das sozialpolitische Engagement. Der BHE hat sich in Hessen besonders lange halten können. Es lag vermutlich zum einen daran, daß er eine erfolgreiche Sozialpolitik mitgestaltete, und zum anderen daran, daß es in der Parteiführung sowie zwischen BHE und dem Bund der Vertriebenen wenig landsmannschaftliche Spannungen gab, weil Sudetendeutsche klar dominierten. (Dok. 26 und 27)
Bittschriften und Proteste
Trotz ihrer äußerst schwierigen materiellen und seelischen Lage verhielten sich die Heimatvertriebenen zwar grundsätzlich diszipliniert und friedfertig, dennoch versuchten sie auf ihre unbefriedigende Lage aufmerksam zu machen und Verbesserungen für sich selbst und andere zu erreichen. Sie schrieben unzählige Beschwerden und Bittschriften an Bürgermeister, Landräte, den Staatsbeauftragten oder den Ministerpräsidenten. Die Neuankömmlinge aus dem Osten hatten zwar ihre Heimat verloren, nicht jedoch ihr Selbstbewußtsein. Auf Versammlungen machten sie auf ihr Schicksal aufmerksam und protestierten gegen unbillig erscheinende Mißstände. Daß ihre Geduld aber auch Grenzen hatte, zeigt ein spektakulärer Fall in Frankfurt.
Als im Juni 1950 Flüchtlinge und Vertriebene, die im Rahmen der Umsiedlungsaktion des Bundes von Schleswig-Holstein nach Frankfurt kamen, in den Rödelheimer Bunker eingewiesen werden sollten, weigerten sie sich dort einzuziehen. Frauen und Männer protestierten gemeinsam und hatten Erfolg: Sie erhielten daraufhin bessere Quartiere zugewiesen. Ihr Verhalten war durch lange Lageraufenthalte in Schleswig-Holstein mitbedingt. In Hessen ist es sonst zu solch aufsehenerregenden Ereignissen nicht gekommen. Hier gab es früh Mitwirkungsmöglichkeiten für Flüchtlingsvertreter.
Flüchtlingsvertrauensleute
Die Bildung politischer Vereinigungen war den Flüchtlingen zunächst von der Militärregierung aus der Befürchtung heraus untersagt, daß sie ein gefährliches Unruhepotential bilden könnten. Um trotz des Koalitionsverbots den Vertriebenen Mitsprachemöglichkeiten in Ausschüssen zu geben, wurden in der ersten Durchführungsverordnung zum Flüchtlingsgesetz vom 18. September 1947 Flüchtlingsvertrauensleute als offizielle Vertreter dieser Gruppe anerkannt. Mit dem Flüchtlingsgesetz wurden Flüchtlingsbeiräte in der Gemeinde, im Kreis, beim Regierungspräsidenten und im Landesflüchtlingsamt gebildet. Über die Vertrauensleute sollten die Beiräte den Kontakt zu den Flüchtlingen suchen. Ein Mangel dieses Vertretungsmodells war aber, daß die Mitglieder des Flüchtlingsbeirats von den politischen Parteien vorgeschlagen wurden und nicht aus dem Kreis der Vertrauensleute gewählt wurden. Die Vertrauensleute wurden seitens der Landräte und auch der politischen Parteien nicht nur für überflüssig, sondern geradezu für schädlich gehalten, weil sie ihrer Auffassung nach die organische Eingliederung der Flüchtlinge behindern und das Ansehen der von den Parteien vorgeschlagenen Flüchtlingsausschußmitglieder unterminieren würden. Massiv vorgetragen wurden diese Einwände nach den Kommunalwahlen vom April 1948, bei denen auch Flüchtlinge auf Listen der zugelassenen Parteien in die Kreistage gewählt worden waren. Der Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft hessischer Landkreise, Landrat Treibert, fürchtete sogar, daß sich als Gegenreaktion in den Landkreisen "Vereinigungen zur Abwehr der Bestrebungen der Flüchtlinge und Evakuierten" bilden könnten.
Die Bedeutung der Vertrauensleute lag darin, daß sie landesweit gewählt waren und so die Flüchtlinge in jeder Gemeinde Ansprechpartner hatten. Hinzu kommt, daß für viele die Wahl in dieses Amt der Beginn eines langen politischen Engagements war. Gewählt wurden als Flüchtlingsvertrauensleute in Hessen übrigens fast nur Männer: von über 2600 Vertrauensleuten waren lediglich 90 Frauen, was einem Anteil von 3% entspricht. Unter den Stellvertretern waren es 14%. Dem entspricht das Wahlergebnis in der Stadt Wiesbaden: Als Vertrauensleute wurden 18 Männer gewählt, unter den Stellvertretern war eine Frau. Es lag nicht daran, daß Frauen nicht bereit gewesen wären, dieses Amt zu übernehmen. Im Wahlkreis Wiesbaden-Alt z.B. kandidierten ebensoviele Frauen wie Männer.
Mit dem Erstarken der Flüchtlingsvereine und -verbände und der Gründung einer Flüchtlingspartei nach der Konstituierung der Bundesrepublik hatten die Vertrauensleute ihre Funktion verloren. Die Vertrauensleutewahlen fanden 1949 zum letzten Mal statt.
Erste Flüchtlingsorganisationen
Trotz des Verbots der Militärregierung bildeten die Flüchtlinge schon im Jahre 1946 Gruppen auf Ortsebene, wobei die Flüchtlingsvertrauensleute oft die treibenden Kräfte waren. Die Gruppen trugen verschiedene Bezeichnungen. In Nordhessen entstanden "Notgemeinschaften der Heimatvertriebenen" sowie "Betreuungsstellen für Flüchtlinge und Ausgewiesene" und in anderen Teilen des Landes "Hilfsdienste der Heimatvertriebenen". Die Motive, die zur Gruppenbildung führten, waren unterschiedlich und hingen stark von der Person des Gründers ab. Unter ihnen waren viele sudetendeutsche Sozialdemokraten. Eine große Rolle spielten auch christliche Hilfsvereine, so z.B. in Mainz-Kostheim die Christliche Arbeitsgemeinschaft Heimatvertriebener. Da die Lebensbedingungen in den Gemeinden stark von Entscheidungen der Kreisverwaltung bestimmt wurden, schlössen sich diese Vereine bald auch auf Kreisebene zusammen. Der Schwerpunkt der frühen Organisationsbildung lag eindeutig in den Landgebieten Nordhessens, d.h. eben dort, wohin die Vertriebenen 1946 zum großen Teil gelangt waren. Auch unter den Vorsitzenden der Kreisvereine gab es Anhänger unterschiedlicher politischer Richtung. (Dok. 23)
Fast ein Jahr dauerte es, bis die amerikanische Militärregierung die Bildung von Vertriebe-nenorganisationen auf Orts- und Kreisebene zu wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Zwecken genehmigte. Die Aufhebung dieses Verbots lag auch im Sinne der hessischen Flüchtlingspolitik. Das Konzept zur Eingliederung der Flüchtlinge, das der Rüdesheimer Landrat Dr. Peter Paul Nahm entwickelt hatte, beruhte stark auf der Mitarbeit der Flüchtlinge sowohl bei der Planung und in der Verwaltung als auch bei praktischer Arbeit wie z.B. der Selbsthilfe beim Wohnungsbau. Diese Überzeugungen setzte er auch weitgehend bei der Kompetenzzuteilung für das neuzugründende Landesamt für Flüchtlinge durch. Es wurde bereits im November 1946 vom Kabinett beschlossen, doch erst 1947 eingerichtet, weil die Militärregierung die Entscheidung in einer so wichtigen Angelegenheit der ersten gewählten hessischen Regierung überlassen wollte. Wenn dabei von einer besonderen hessischen Lösung gesprochen wird, so ist sie erstens dadurch gekennzeichnet, daß das Kommissariatswesen aufgegeben und "normale Zuständigkeiten" eingeführt wurden: Der Flüchtlingskommissar für den Regierungsbezirk wurde dem Regierungspräsidenten unterstellt und der Kreisflüchtlingskommissar dem Landrat. Zweitens zeichnet sich die hessische Lösung dadurch aus, daß neben Flüchtlingsvertretern auch Vertreter der einheimischen Interessenverbände und Hilfsorganisationen zu den Beratungen des zur Unterstützung des Staatsbeauftragten geschaffenen Landesbeirats zugezogen wurden. Eine gemischte Zusammensetzung des Beirats zwinge - so erhoffte es Nahm - zum Kennenlernen der wechselseitigen Schwierigkeiten und vollziehe so psychologisch bereits eine Voraussetzung zur Eingliederung. Von der Übertragung der Kompetenzen der Kreisflüchtlingskommissare an die Landräte erwartete er zwar angesichts der schwierigen Situation auch keine durchschlagende Verbesserung für die Lage der Flüchtlinge. Es schien ihm aber der einzige Weg, auf dem überhaupt Verbesserungen erreicht werden konnten.
Die Hoffnungen, die Nahm auf die Landräte gesetzt hatte, erfüllten sich nur zum Teil. Schon nach vier Monaten übte Nahm heftige Kritik. Nur zwei Landräte hätten ihn eingeladen und ihm Gelegenheit gegeben, vor Flüchtlingsvertretern und Bürgermeistern in ihrem Kreis zu sprechen. Manche hätten offenbar parteipolitische Hemmungen, was 1945/46 noch nicht wahrzunehmen gewesen sei: Wenn sie sich für die Flüchtlinge einsetzten, so fürchteten sie, könnte das ihre einheimischen Wähler verprellen.
Unter den Flüchtlingen wuchs indessen die Kritik über die geringen politischen Mitwirkungsmöglichkeiten, zumal nicht einmal die Flüchtlingsbeiräte auf Landes-, Regierungsbezirks- oder Kreisebene von den Flüchtlingen gewählt werden konnten, sondern ernannt wurden. Sie forderten, daß ihre Vertreter in den Beiräten aus dem Kreis der Flüchtlingsvertrauensleute genommen werden sollten.
Gründung des Landesverbandes der Heimatvertriebenen
Während Flüchtlingsvereinigungen auf Kreisebene bereits 1947 entstanden, brauchte die Bildung eines Landesverbandes mehr Zeit. Nach mehreren Anläufen wurde im Februar 1948 die Arbeitsgemeinschaft der Vorsitzenden der Kreisflüchtlingsorganisationen (AGO) gebildet. Josef Walter, vor 1933 Stadtrat in Bodenbach (Sudeten) und dort führend am Aufbau der Angestelltengewerkschaft und -krankenkassen beteiligt, übernahm den Vorsitz. Die führenden Vertreter der Kreisverbände, die zunächst nicht dem vom Arbeitsminister ernannten Landesbeirat für Flüchtlingswesen angehörten - dem höchsten und mit Abstand einflußreichsten Selbstverwaltungsorgan der Flüchtlinge - forderten jetzt eine angemessene Vertretung. Während Nahm die ersten Beiratsmitglieder im Zuge seiner Umfrage bei den Landräten unter kompetenten Wirtschafts- und Kulturexperten gefunden hatte, suchte er bald auch über den Beirat die Organisierung der Flüchtlinge in eine einheitliche Bahn zu lenken. Dazu gehörte, daß er kompromißbereite Flüchtlingsverbandsvertreter kooptieren ließ. (Dok. 24)
Im Laufe des Jahres 1948 erwuchs in den Kreisverbänden zunehmend Kritik an der Landes-flüchtlingsverwaltung und dem Landesflüchtlingsbeirat. Damit verbunden war die Forderung, daß die Flüchtlinge selber die Beiratsmitglieder wählen und die bisherigen Vertreter zurücktreten sollten. Bei dem Konflikt ging es auch darum, daß einige Flüchtlingsvertreter sich von einer Flüchtlingspartei mehr Wirkung erhofften als von einem parteipolitisch neutralen Verband. Nahm und Josef Walter gelang es in Verhandlungen, die Lage zu entspannen.
Zwar versagte die Militärregierung einem Landesverband weiter ihre Zustimmung. Dennoch wurde am 17. Dezember 1948 im Frankfurter Operncafe der "Landesverband der Heimatvertriebenen" gegründet. (Dok. 25) Beim zweiten Verbandstag 1950 in Fulda stieg Wenzel Jaksch, der ehemalige Führer der sudetendeutschen Sozialdemokratie, dem die Alliierten bislang die Einreise nach Westdeutschland untersagt hatten, aktiv in die Ver-bandsarbeit ein. Er wurde bald Leiter des Landesflüchtlingsamtes, später Bundestagsabgeordneter und Bundesvorsitzender des Verbandes der Heimatvertriebenen. Auf dem Verbandstag in Frankfurt 1951 verkündete der hessische Ministerpräsident Zinn den 120 000 Heimatvertriebenen auf dem Gelände hinter der Messehalle, daß die Landesregierung den "Landesverband der Heimatvertriebenen" als Partner der Landesregierung anerkenne.
Heimatvertriebene und politische Parteien
Während sich die Militärregierung bei der Zulassung von parteipolitisch neutralen Flüchtlingsvereinigungen nach und nach liberaler verhielt, blieb das Verbot einer Flüchtlingspartei bis zur Gründung der Bundesrepublik bestehen. Ein Teil der Flüchtlinge schloß sich den bestehenden Parteien an. So erhielt die SPD durch die zahlreichen sudetendeutschen Sozialdemokraten starken Zulauf, und auch CDU und LDP konnten zahlreiche Mitglieder gewinnen. Doch der Anteil der Flüchtlinge, die sich keiner Partei anschlössen und auch mit keiner sympathisierten, war hoch. Neben dem allgemeinen Mißtrauen gegenüber Parteien und Politik - einer damals in der Bevölkerung weitverbreiteten Reaktion auf die NS-Zeit - kam bei den Flüchtlingen hinzu, daß sie in den bestehenden Parteien in erster Linie Interessenvertretungen der Einheimischen sahen. Einem Teil der Flüchtlinge und ihren Führern schien es ohnehin am besten, wenn die Flüchtlinge sich in einem parteipolitisch neutralen Einheitsverband landes- bzw. später bundesweit organisierten. Davon war auch Josef Walter überzeugt, der den Landesverband fast zwei Jahrzehnte leitete, sowie Peter Paul Nahm, der als Leiter des Landesflüchtlingsamtes ebenfalls eine parteipolitische Zersplitterung der Flüchtlinge verhindern wollte. Mit der zunehmenden Unzufriedenheit über die ihrer Ansicht nach zu langsamen Verbesserungen in der Wohnungssituation und der steigenden Arbeitslosigkeit wuchs allerdings unter den Flüchtlingen der Wunsch nach einer Flüchtlingspartei.
Der BHE
Der Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten (BHE), die erste überregionale Flücht-iingspartei, wurde 1950 in Schleswig-Holstein gegründet. Der BHE fand in Hessen rasch viele Mitglieder und Wähler. Nach der Landtagswahl von 1954 war er das "Zünglein an der Waage" und entschied sich für eine Koalition mit der SPD, die bis zum Ausscheiden des BHE aus dem Landtag 1966 hielt. Der aus dem Sudetenland stammende Landwirtschaftsminister Gustav Hacker wurde neben dem Ministerpräsidenten Georg-August Zinn zum populärsten hessischen Politiker. Zinn hielt an ihm auch fest, als die SPD 1962 die absolute Mehrheit errang. Auch das Wirtschaftsministerium war in der Hand des BHE. Das Dilemma des BHE war, daß er sich mit seinen sozialpolitischen Erfolgen selbst das Wasser abgrub. Seine treuesten Wähler waren heimatvertriebene Bauern und alte Menschen auf dem Lande, während Vertriebene, die Arbeitsplatz und Wohnung in der Stadt gefunden hatten, seltener BHE wählten und sich übrigens häufig auch vom Vereinsgeflecht der Vertriebenen fernhielten.
Der BHE hat durch seine engagierte Mitarbeit am Hessenplan (s. Tafel 31) mit dafür gesorgt, daß viele Vertriebene bessere Wohnungen und angemessene Arbeitsplätze erhielten. In seiner politischen Arbeit konzentrierte er sich auf Eingliederungshilfen für Vertriebene. In vielen Bundesländern wandte er sich seit Mitte der 50er Jahre von der Sozialpolitik ab und setzte sich für das Heimatrecht und gegen den Verzicht auf deutsche Gebiete ein. In Hessen überwog allerdings immer das sozialpolitische Engagement. Der BHE hat sich in Hessen besonders lange halten können. Es lag vermutlich zum einen daran, daß er eine erfolgreiche Sozialpolitik mitgestaltete, und zum anderen daran, daß es in der Parteiführung sowie zwischen BHE und dem Bund der Vertriebenen wenig landsmannschaftliche Spannungen gab, weil Sudetendeutsche klar dominierten. (Dok. 26 und 27)
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