6. Juristische Lebenswelt in Hessen und Marburg zur Zeit der Hexenverfolgung
1517 wurde nachweislich das erste Mal in Marburg eine Frau als Hexe verbrannt. Dies geschah in der Zeit der Regentschaft Annas von Mecklenburg für ihren unmündigen Sohn, den späteren Landgrafen Philipp den Großmütigen. Es liegt nahe, diesen frühen Hexenprozess im Zusammenhang mit der schwachen landesherrlichen Stellung Annas von Mecklenburg zu sehen. Anna stritt mit den hessischen Ständen erbittert um die Führungsrolle in Hessen. Sie hatte also allen Anlass, durch einen solchen Prozess und die konsequente Vollstreckung der Strafe ihre strikte Umsetzung der Gesetze zu demonstrieren.
In der Frühen Neuzeit intensivierten die Landesherrschaften ihre Verwaltung. Damit setzte auch eine konsequentere rechtliche Verfolgung von Straftaten ein. Die seit Menschengedenken bekannten und bereits in der Bibel erwähnten schweren Vergehen waren: Mord, Totschlag, Diebstahl, Raub, Betrug, Brandstiftung, Ehebruch und Sodomie. Die Zauberei war dabei nur ein Vergehen unter vielen. Erst in der Frühen Neuzeit wurde sie mit aller Konsequenz und Schärfe verfolgt.
Bis 1688, als die letzte Hexe in Marburg hingerichtet wurde, erlebten die Einwohner Hessens eine bewegte und unsichere Zeit. Politisch prägend waren die Einführung der Reformation und die hessische Landesteilung nach dem Tod Philipps des Großmütigen 1567. Spürbare Erschwernisse und Not brachten die Auseinandersetzungen um das Marburger Erbe nach dem Tod Landgraf Ludwigs IV. von Hessen-Marburg, die schließlich während des 30-jährigen Krieges militärisch gelöst wurden, sowie der drastische Anstieg der Getreidepreise während der Mitte des 16. Jahrhunderts infolge von Missernten und Schlechtwetterperioden. Krisenzeiten führten zur Verunsicherung, was sich bis heute aus den Prozessakten herauslesen lässt. Im Fall der Anna Dörr von 1656 beispielsweise erinnerten sich die Zeugen an Ereignisse aus der Zeit, als die kaiserlichen Truppen in Marburg gewesen waren.
Die Stadt Marburg hatte zwischen 3.865 (1550) und 3.350 (1661) Einwohner. Der Großteil der zumeist ländlich geprägten Bevölkerung lebte von Handwerk und Landwirtschaft und ging trotz aller Widrigkeiten seinem Tagesgeschäft nach, die Kinder in die Schule. Die Beschäftigungsstruktur innerhalb des Handwerks wandelte sich. Die im Mittelalter einflussreiche Zunft der Wollweber erlebte, zusammen mit der gesamten mittelrheinischen Tuchproduktion, einen Niedergang, so dass die Handwerksmeister verarmten. Dass aus gerechnet in dieser nun prekären Berufsgruppe Konflikte gärten und Beschuldigungen der Hexerei kursierten, ist bezeichnend.
Den Behörden war dies durchaus bewusst. In den Prozessakten taucht etwa bei den Zeugenverhören die Frage auf, ob es nicht nachvollziehbar sei, dass Neider auf den Plan gerufen würden und unerklärliche, auf Zauberei beruhende Hilfe vermuteten, wenn es ein Nachbar in Krisenzeiten plötzlich zu einem gewissen Auskommen gebracht habe. Doch selbst unter Inrechnungstellung derartiger zwischenmenschlicher Konflikte konnten die Beschuldigten dennoch wegen der Vergehen, die ihnen vorgeworfen wurden und die sie dann ggf. unter der Folter gestanden, hingerichtet werden.
Da die Rechtsprechung die Durchsetzung geltender Gesetze demonstrieren und ihr Handeln legitimieren wollte, fanden insbesondere die Urteilsverkündung und die Bestrafung in der Öffentlichkeit statt, bei allen Verbrechen. Diese Praxis erklärt, warum und wie es zu den stereotypen Geständnissen kommen konnte, die über den Hexen-Sabbat und den Flug dorthin mit dem Teufel berichteten. Bei der Verlesung der »Urgicht«, des Geständnisses, am »endlichen Rechtstag« wurden diese Motive, die auf alte Alltagsmythen zurückgingen, allen Anwesenden zur Kenntnis gebracht. Später angeklagte Personen wussten daher, welche Geschichten und Taten sie zu gestehen hatten, wollten sie der Folter entgehen.
Gegen Ende des 17. Jahrhunderts setzte sich in den theoretischen Schriften die Kritik an den Hexenprozessen langsam durch. Die hessischen Landgrafen forderten nun verstärkt zur Mäßigung auf. Landgraf Karl von Hessen-Kassel erließ 1702 nur noch eine Verordnung zur Verfolgung von Sektierern und Widertäufern und erließ für Zauberei keine Todesstrafe mehr. Daraufhin wurde immer weniger Menschen deswegen der Prozess gemacht. Straftaten wie Mord
und Totschlag wurden jedoch weiter mit dem Tod geahndet. 1864 wurde Ludwig Hilberg als Letzter in Marburg wegen der Ermordung einer von ihm geschwängerten Frau öffentlich mit dem Schwert hingerichtet.
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