4. Politische Streitfragen
Die Grundfrage, wie weit die Revolution gehen sollte, lag jedem politischen Thema letztlich zu Grunde. Manchmal wurde es aber auch direkt verhandelt wie bei der bundesweiten Tagung der Turnvereine Anfang Juli 1848 in Hanau (Dok. 1, 2). Die Satzung des Turnerbundes wies als einen seiner Zwecke aus, "für die Einheit des deutschen Volkes tätig zu sein". Ein Frankfurter Turner beantragte nun den Zusatz, dass diese Einheit in Form der demokratischen Republik erreicht werden solle. Der Antrag fand keine Mehrheit und so trennte sich der demokratische und der allgemeine Turnerbund. Im Marburger Turnverein zog auch die unterlegene Minderheit aus, aber es waren hier die Demokraten, die die Abstimmung mit 118 gegen 40 Stimmen gewannen.
Ein wichtiges kurhessisches Thema war die Wahlrechtsreform der Ständeversammlung (Dok. 3-6). Bisher konnte der Adel 20 von 53 Sitzen selbst bestimmen und je 16 Sitze der Städte und Landgemeinden wurden zwar per Wahl (über Wahlmänner) vergeben, wählbar waren aber nur wohlhabende Bürger und Bauern.
Der Marburger Volksrat schlug Ende April 1848 dem Landtag für alle zu vergebenden Sitze vor: direkte Wahl und das passive wie auch aktive Wahlrecht sollte jedem männlichen Staatsangehörigen zukommen, der mindestens 25 Jahre alt ist, dem kein Richter die Ehre absprach und der direkte Steuern zahlt. Der Vaterländische Verein in Marburg begründete den gewünschten Ausschluss der unteren Schichten Anfang August 1848 so: "Die selbständigen und unabhängigen Leute des Mittelstandes sind der Kern und die Kraft des Volkes: auf sie muss der Staat sein ganzes Dasein stützen, sie müssen auch bei den Wahlen entscheiden." Diese Position führte zu Austritten beim Vaterlandsverein und zu Eintritten bei den Marburger Demokraten. Die Volksversammlung in Kassel forderte Mitte August, nicht nur die Vorrechte des Adels zu entfernen, sondern auch auf "jeden Steuer- und Besitz-Census" zu verzichten. Heraus kam zuletzt eine Direktwahl selbständiger Männer ab 30 Jahren innerhalb von drei Wählergruppen, die jeweils 16 Sitze zu vergeben hatten: Höchstbesteuerte, Städter und Landbewohner. Das geburtsständische Vorrecht hatte sich in ein besitzständisches Vorrecht verwandelt. Das neue Wahlrecht, das im April 1849 in Kraft trat, war also kein allgemeines und gleiches Wahlrecht, wie es die Demokraten und die republikanischen Liberalen gefordert hatten, aber es brachte nun etliche Oppositionelle in den kurhessischen Landtag, Bayrhoffer wurde im Sommer 1850 sogar Landtagspräsident.
Ende Juni 1848 setzte die Nationalversammlung den österreichischen Erzherzog Johann als Reichsverweser ein. Während die einen sich schon länger nur noch mit der Frage befassten, wer künftiger Monarch der Deutschen sein solle (Dok. 7), versuchten die Demokraten, die Möglichkeit einer Republik offen zu halten (Dok. 8). Sie störte, dass ein Fürst zum Regierungsoberhaupt gewählt wurde. Aber noch viel mehr störte sie, dass dieser Regierungschef gar nicht an die Beschlüsse der Nationalversammlung gebunden war, er dagegen gehalten war, sich mit den Vertretern der deutschen Länder abzustimmen. Das kam einer Selbstentmachtung gleich. Aber die Wahl zur Nationalversammlung hatte eben eine klare Mehrheit für das liberal-konstitutionelle Bürgertum ergeben und dessen Begehrlichkeiten gegenüber dem Adel waren geringer als seine Ängste vor den Unterschichten.
Im Zusammenhang mit dem Waffenstillstand zwischen Preußen und Dänemark kam es im September 1848 zu Unruhen in Frankfurt, die durch preußische, bayerische, aber auch kurhessische Truppen blutig beendet wurden. Ihre Machtlosigkeit wurde der Nationalversammlung damit zweifach vorgehalten. Gleichzeitig genehmigte die Nationalversammlung die Verdoppelung des Heeres, also nicht ihres eigenen, denn das hatte sie nicht. Die Länder konnten nun doppelt so viele Bürger für ihre Heere einziehen. Die Kasseler Volksversammlung forderte deshalb am 23. September mit Schreiben an die Linke in der Nationalversammlung sowie an das kurhessische Justiz- und das Kriegsministerium, dass dann wenigstens die Kriegsartikel aufgehoben oder abgeändert werden sollten (Dok. 9). Die militärischen Ausnahmegesetze verweigerten Bürgern, kaum waren sie Soldaten geworden, Freiheitsrechte wie das Petitions- und Versammlungsrecht, unterwerfe sie dagegen einem demütigenden Reglement und barbarischen Strafen, die sie dann zu "willenlosen Knechten" der Reaktion erniedrigten, hieß es in den Appellen.
In Marburg kam es am 10. November 1848 zu einer Rekrutierungsverweigerung im Rathaus. Die ausgelosten Militärpflichtigen aus Marburg und Umland sangen vor der Kommission lauthals revolutionäre Lieder. Die Rekrutierung musste abgebrochen werden, auch weil sich der Oberbürgermeister weigerte, Polizei oder die Bürgergarde zu holen.
Zum Ende des Jahres 1848 setzte die Nationalversammlung aber nochmal ein Glanzlicht: die Verabschiedung der "Grundrechte des deutschen Volks" (Dok. 10). Ein starker Grundrechtekatalog nicht nur für die Zeit. Die 100 Volksschullehrer aus Oberhessen, die sich im Sommer 1848 zweimal in Marburg getroffen hatten, um auf ihre Notlage aufmerksam zu machen, sahen ihre Forderungen alle erfüllt: Sie wurden der kirchlichen Aufsicht und deren schlechter Bezahlung entzogen, sie sollten nun Staatsdiener werden. Nur zwei soziale Rechte haben Eingang in die Sammlung gefunden: die kostenlose Bildung für Unbemittelte und die Auswanderungsfreiheit mit dem Verbot von Abzugsgeldern. Manche Regel steht noch heute aus: die Trennung von Staat und Kirche etwa oder auch das Verbot aller Titel, die nicht mit einem Amt verbunden sind.
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