7. Jüdischer Alltag zwischen Tradition und Integration
Religiös bestimmte Tages-, Wochen- und Jahresrhythmen, Feste, Vorschriften, Riten und Gebräuche prägten im 19. Jahrhundert weit stärker den Alltag von Menschen, zumal in ländlichen Regionen, als man sich das heute vielleicht vorstellt. Existierten selbst zwischen den christlichen Konfessionen hierin große Unterschiede und grenzten sich diese im gemischt konfessionellen Raum Marburg deutlich und auch sichtbar voneinander ab – z.B. aufgrund der unterschiedlichen Trachten der Frauen auf den Dörfern –, so unterschied sich der Alltag der Juden umso gravierender von dem der Christen. Er enthielt zudem Barrieren, insbesondere die strengen Speisevorschriften, die eine soziale Interaktion der beiden Gruppen erschwerten. Und doch entwickelten sich im 19. Jahrhundert soziale Räume, in denen Christen und Juden einander näher kamen und über die gewohnten rein geschäftlichen Beziehungen hinaus soziales Leben teilten und gestalteten.
Religiöse Praktiken
Dass man ein von Juden bewohntes Haus oder eine Wohnung betrat, merkte man bereits an der Eingangstür, denn am oberen Teil des rechten Türpfostens war leicht schräg eine Mesusa angebracht, eine in eine Kapsel aus Holz oder Metall eingelassene Pergamentrolle mit einem biblischen Text aus Deuteronomium 6, 4-9 und 11, 13-21, der dem Haus Segen bringen sollte.
Fromme Juden begannen den Tag mit einem Morgengebet, legten sich dazu einen Gebetsschal um und wickelten zwei lederne Gebetsriemen, an denen jeweils eine Kapsel mit biblischen Textstellen befestigt war, in vorgeschriebener Art und Weise um Handgelenk bzw. Stirn.
Im jüdischen Ritus begann die Arbeitswoche mit dem Sonntag, folglich fiel der siebte Tag der Schöpfung, an dem man ruhen sollte, auf Samstag, den Schabbat. Er begann am Freitagabend eine Stunde vor Einbruch der Nacht und dauerte bis Samstag vor Sonnenuntergang. Der Tag war zum einen von einer strengen Arbeitsruhe geprägt, was z.B. darin zum Ausdruck kam, dass man auf dem Land noch bis in das 20. Jahrhundert hinein christliche Nachbarsmädchen, sog. Schabbesmägde, damit beauftragte, Feuer im Ofen anzuzünden und andere notwendige Arbeiten zu verrichten, zum anderen wurde er festlich begangen und war begleitet von verschiedenen Riten. Den ganzen Freitag wurde zunächst geputzt und gekocht, man nahm ein Bad, und am Abend legte man feine Kleider an. Den Tisch deckte man mit einem feinen Tischtuch und dem „guten Geschirr“. Die Hausfrau zündete die beiden Schabbatleuchter an, der Hausherr segnete den Wein in dem Kidduschbecher, ebenso die Challot, zu Deutsch Berches, das waren Hefezöpfe, welche an das Manna in der Wüste nach dem Auszug aus Ägypten erinnern sollten. Dann konnte das Festmahl beginnen. Neben dem Besuch des Gottesdienstes am nächsten Morgen, in dem Woche für Woche ein vorgesehener Abschnitt der Tora vorgelesen wurde, verbrachte man den Schabbat vor allem gesellig mit Familie und Freunden. Das Ende des Schabbats beging die Familie wieder mit einem Ritus. In der Besamimbüchse befanden sich duftende Kräuter oder Gewürze, die den Wohlgeruch des Schabbats versinnbildlichten und von dem Hausherrn gesegnet wurden. Mit dem Entzünden der geflochtenen Havdalah-Kerze markierte man das Ende des Schabbats (Havdala bedeutet Unterscheidung). Sie löschte man mit einigen Tropfen Wein aus dem Kidduschbecher und stimmte sich dann mit guten Wünschen auf die anbrechende Arbeitswoche ein. Die Juden waren allerdings gehalten, die nun folgende christliche Sonntagsruhe nicht zu stören, insofern übten sie hier Zurückhaltung.
Das jüdische Jahr, welches dem Mondkalender folgt und eine eigene Zählung aufweist, ist durchzogen von vielen Festtagen mit je eigenen Bräuchen, seien es Purim, das an die Befreiung aus der babylonischen Gefangenschaft erinnert, Pessach, mit welchem der Auszug aus Ägypten begangen wird, Rosch Haschana, das Neujahrsfest, Jom Kippur, der Versöhnungstag, oder Sukkot, das Laubhüttenfest, eine Art Erntedankfest.
In der Ausstellung wird beispielhaft das Chanukka-Fest thematisiert, ein mehrtägiges, besonders heimeliges Lichterfest zur dunklen Jahreszeit im Dezember, das an ein Wunder erinnert. Nach ihrem Sieg über die griechischen Besatzer im 2. Jh. v. Chr. wollten die Juden, nachdem sie den Tempel von Götzen gereinigt hatten, die Menora, den siebenarmigen Leuchter, anzünden, doch war nur ein einziges Fläschchen Öl vorhanden, das normalerweise nur für einen Tag gereicht hätte. Die Menora brannte jedoch acht Tage lang. Während des achttägigen Festes wird jeden Tag eine zusätzliche Kerze auf einem im Fenster stehenden Leuchter angezündet.
Mit diesem Fest verbunden ist das Dreidelspiel der Kinder. Der Legende nach hielten die unter der Herrschaft der Seleukiden gläubig gebliebenen Juden ihre Kinder trotz des Verbotes zum Studium der religiösen Traditionen an. Tauchten Patrouillen auf, hatten die Kinder schnell den Dreidel zur Hand, taten so, als spielten sie damit, und behaupteten, man habe sich nur hierzu getroffen. So trug der Dreidel zur Erhaltung des Judentums bei. Faktisch geht das Dreidelspiel aber auf ein deutsches Kinderspiel aus dem 16. Jahrhundert zurück. Der Dreidel ist ein vierseitiger Kreisel, auf jeder Seite stehen bestimmte hebräische Buchstaben. Je nachdem, welcher Buchstabe nach dem Drehen oben liegt, wird eine bestimmte Aktion verlangt: Man gewinnt entweder die gesamte Kasse oder die Hälfte, oder man verliert weder noch gewinnt man, oder man muss etwas in die Kasse geben. Wer nichts mehr besitzt, hat verloren. Die Kinder spielen meistens um Süßigkeiten. Außerdem bekommen sie zu Chanukka Geschenke. Dunkle Jahreszeit, Lichterglanz, längere Tage des Feierns und Geschenke – Chanukka und Weihnachten haben gewisse Gemeinsamkeiten. Assimilierte Juden in den größeren Städten feierten gerne „Weihnukka“, verbanden also die schönen Bräuche von Chanukka und Weihnachten miteinander.
Geschäftstätigkeit
Juden im Raum Marburg lebten vor allem vom Handel, nur in geringem Maße auch vom Handwerk. Ein für Juden wichtiges Handwerk war allerdings die Metzgerei, durften sie doch aufgrund ihrer Speisevorschriften nur koscheres Fleisch, also von geschächtetem Vieh, essen und auf keinen Fall Schweinefleisch. Eine solche gut gehende Metzgerei betrieb die in Fronhausen an der Lahn alteingesessene Familie Löwenstein. Das in der Ausstellung gezeigte Ladenschild aus Holz stammt von ihrer „alten“ Metzgerei, die Schrift zeigt ausgeprägte Jugendstilelemente, somit dürfte es um 1900 gefertigt worden sein. Familie Löwenstein gehört zu den „Dorfjuden“, denen im 19. Jahrhundert ein beachtlicher wirtschaftlicher Aufstieg gelang. Ausdruck dessen ist ihr 1881 traufseitig zur Straße errichtetes zweistöckiges Fachwerkhaus, die Front gegliedert durch einen Schmuckgiebel mit Balkon und verzierter Balustrade. Daneben steht noch heute das bescheidene Häuschen der Vorfahren mit der kleinen Metzgerei, von der das Schild stammt. Im 20. Jahrhundert setzte sich ihr Aufstieg fort, denn Hermann Löwenstein baute dem Wohnhaus einen Metzgerladen aus Klinkern vor. Der Verkaufsraum war vornehm weiß gekachelt mit einem Schmuckband aus blauen Kacheln und ausgestattet mit einer Marmortheke. Die Löwensteins verbanden, für jüdische Metzger nicht ungewöhnlich, ihr Handwerk mit dem Viehhandel.
Der Viehhandel war im 19. Jahrhundert fest in jüdischer Hand, weswegen übrigens Otto Böckel mit seinen Ausrufen judenfreier Viehmärkte wenig Erfolg hatte. Einen seltenen und wertvollen Einblick in die Geschäftstätigkeit einer Viehhändlerfamilie im Main-Kinzig-Raum gewährt das mit der Aufschrift „Haupt-Buch für Simon Ehrlich“ versehene Rechnungsbuch. 1856-1896 von verschiedenen Händen geführt, dürfte es mindestens zwei Generationen gedient haben. Ehrlichs lebten in Schlüchtern. Sie handelten schwerpunktmäßig in Orten um Steinau an der Straße und Schlüchtern mit unterschiedlichen Rinderrassen und besaßen zahllose Kunden von Bürgermeistern, Bauern, Handwerkern bis zu Tagelöhnern. Nur im Ausnahmefall beglichen ihre Käufer die fällige Summe sofort bar, sondern zahlten sie meistens über 1-2 Jahre zu einem Zinssatz von 5 Prozent ab. Zu den Geschäftspraktiken der Ehrlichs gehörte es, zusammen mit Partnern zu handeln.
Bildung und gesellschaftliches Leben
Die Alphabetisierung der Juden auf dem Land und den ausgeprägten Sinn für Familiengeschichte und –tradition dokumentiert ein einzigartiges Dokument, das trotz der Shoa und der Ermordung seiner letzten Besitzer erhalten geblieben ist – eine von mehreren Generationen über die weibliche Linie und daher gleich in drei Familien aus Roth vererbte Bibel, die ein mit grobem Faden eingenähtes Doppelblatt chronikalischer Notizen in Hebräisch, später in Deutsch enthält. Die Eintragungen beginnen mit dem Jahr 1803 und enden 1921. Geburten und Todesfälle wurden überwiegend in Hebräisch verzeichnet, auch von Frauen, in Deutsch z.B. ein besonders schlimmes Hochwasser von 1841 und die Mobilmachung vom 1. August 1914. Zu einigen Geburtseinträgen aus dem ersten Viertel des 19. Jahrhunderts fehlen amtliche Quellen, was diese Aufstellungen besonders wertvoll für die Genealogie der jüdischen Familie macht.
Bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als viele jüdische Landgemeinden noch klein waren und die Kinderzahl entsprechend gering, beantragten Juden, Privatlehrer beschäftigen zu dürfen. Bald wurden an vielen Orten jüdische Elementarschulen gegründet, und noch bis ins 20. Jahrhundert hinein unterhielten selbst ländliche jüdische Gemeinden diese der staatlichen Aufsicht unterstehenden achtklassigen Schulen. Wollten sie ihren Kindern eine höhere Bildung zukommen lassen, mussten sie sie jedoch auf die weiterführenden Schulen in Marburg schicken, allesamt gemischt konfessionell. Für Jungen existierten hier im 19. Jahrhundert das bereits von Philipp dem Großmütigen gegründete Pädagogium, ab 1833 als Gymnasium bezeichnet (heute das humanistische Gymnasium Philippinum), und seit 1838 eine mit wechselnden Unterrichtskonzepten und entsprechenden Bezeichnungen versehene „Realschule“, welche auf Technik und Gewerbe vorbereiten sollte und daher Schwerpunkte auf Mathematik und Naturwissenschaften sowie die neueren Sprachen legte. Sie ist die Vorläuferin der Martin-Luther-Schule. Für Mädchen bestand seit 1858 eine private höhere Töchterschule, die 1879 in die städtische höhere Töchterschule umgewandelt wurde, die heutige Elisabethschule.
Die Schülerlisten des Gymnasiums belegen vor der Mitte des 19. Jahrhunderts nur vereinzelte Aufnahmen von Söhnen Marburger jüdischer Familien, später nehmen diese zu, wie auch von solchen aus der Umgebung. Früh besonders bildungseifrig waren u.a. die Familien Lucas, Erlanger und Eichelberg. In den 1880er Jahren bis 1900 betrug der Anteil jüdischer Schüler rund 5 Prozent, nach 1900 stieg er kontinuierlich an bis auf etwa 10 Prozent 1904. Die „Realschule“ wies seit 1870 bis 1900 einen etwas höheren Schüleranteil als das Gymnasium auf, nach dem Ausbau zur Oberrealschule 1898/99 stieg dieser kontinuierlich an auf deutlich über 10 Prozent und erreichte 1907 15 Prozent. Den Bildungsbedürfnissen der Juden entsprach die Oberrealschule offenbar mehr als das humanistische Gymnasium. Es bleibt aber festzuhalten, dass bei beiden der prozentuale Anteil der jüdischen Schüler weit über dem der Juden an der Gesamtbevölkerung lag. Die Entwicklung in der Marburger Region folgt somit dem reichsweiten Trend: Juden zeichnete ein besonderes Bildungsstreben aus, sie waren in der Lage, weiterführenden und langen Schulbesuch ihrer Söhne zu finanzieren und damit Voraussetzungen für deren sozialen Aufstieg zu schaffen. Auch ihren Töchtern ermöglichten Juden eine höhere Bildung. Erlangers, Eichelbergs, Lucas‘, Strauß‘ und andere Familien, auch vom Land, schickten sie zur höheren Töchterschule. Zwischen 1878 und 1907 wurde diese von 94 jüdischen Mädchen besucht.
Im 19. Jahrhundert entwickelte sich in Deutschland das Vereinswesen, wo sich Gleichgesinnte zu gemeinsamen Aktivitäten zusammenfanden. Juden gründeten einerseits eigene, oftmals karitative Vereine, mit denen sie ihre spezifischen Interessen verfolgten. In Stadt und Land engagierten sie sich jedoch ebenso in gemischt konfessionellen Vereinen, seien es Gesang-, Sport- oder andere Kulturvereine. Fotos und Jubiläumsfestschriften solcher Vereine belegen oftmals einen frühen Beitritt jüdischer Mitglieder, von denen sich einige sogar besonders verdient machten und darum mit der Ehrenmitgliedschaft ausgezeichnet wurden. Gerade das Vereinswesen belegt eine zunehmende Integration der Juden in die Dorfgemeinschaften ebenso wie in die Stadtgesellschaften.
(We)
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