6. Politischer Antisemitismus und bürgerliche Gegenwehr
VI. Politischer Antisemitismus und bürgerliche Gegenwehr
Antijüdische Agitationen und gewalttätige Ausschreitungen gegen Juden ereigneten sich während des gesamten 19. Jahrhunderts. Mit der Entstehung des politischen Antisemitismus am Ende dieses Säkulums erlangte die Judenfeindschaft jedoch eine neue Qualität. Unter dem Einfluss einer tiefgreifenden wirtschaftlichen Krise, eines erstarkenden Nationalismus, der Verdrehung der wissenschaftlichen Erkenntnisse eines Darwin bildete der sogenannte Berliner Antisemitismusstreit, eine von dem konservativen Historiker und Reichstagsabgeordneten Prof. Heinrich von Treitschke 1879 ausgelöste Debatte über den Einfluss des Judentums, den Ausgangspunkt für die Entstehung des politischen Antisemitismus. Anders als zuvor spielte für dessen Vertreter die Zugehörigkeit der Juden zu einer bestimmten Religion als ausgrenzendes Merkmal keine Rolle mehr, sondern ihnen wurden, scheinbar wissenschaftlich belegt, Rassemerkmale und negative Eigenschaften zugeschrieben, die ihre Wesensart angeblich determinierten. Bald schon organisierten sich Vertreter des Antisemitismus in Vereinen und Parteien. 1880/81 wurde die sogenannte Antisemitenpetition in den Reichstag eingebracht, mit der die rechtliche und soziale Gleichstellung der Juden abgeschafft werden sollte.
Der politische Antisemitismus war keine einheitliche Bewegung, sondern es entwickelten sich verschiedene Richtungen mit entsprechenden Gruppierungen und Parteien. Als erster direkt gewählter, explizit antisemitischer Reichstagsabgeordneter zog 1887 der Hilfsbibliothekar an der Marburger Universitätsbibliothek Dr. Otto Böckel für den Wahlkreis Marburg-Kirchhain-Frankenberg-Vöhl in den Berliner Reichstag ein.
Die Böckelsche Richtung des Antisemitismus entfaltete ihre Wirkungen vornehmlich in Oberhessen, d.h. im Marburger Raum bis in die Wetterau, sowie Teilen Südhessens. Otto Böckel (1859-1923) wurde als Sohn eines Bauunternehmers in Frankfurt geboren. Der schon als Kind offenbar schwärmerisch veranlagte junge Mann studierte auf Druck seines Vaters zunächst Jura und Nationalökonomie, schwenkte dann aber in Gießen auf Germanistik und neuere Sprachen um. In Marburg wurde er 1882 von dem Philologen Prof. Edmund Max Stengel zu einem Thema aus der altfranzösischen Lyrik promoviert. Im Jahr darauf erhielt er seine Anstellung an der Universitätsbibliothek.
Bereits während seiner Gießener Studienzeit zog Böckel über die Dörfer, sammelte Volkslieder und betrieb Volksliedforschung. 1885 veröffentlichte er eine Sammlung „Volkslieder aus Oberhessen“ und bis zu seinem Tod weitere Studien, die sich mit Volksliedern und -sagen beschäftigten. Hierdurch erlangte Böckel eingehende Kenntnisse über die bäuerliche Kultur und Lebensweise, die bestehenden ökonomischen Probleme und entwickelte zum Teil persönliche Beziehungen, die seinen Antisemitismus und sein politisches Programm bestimmten.
Politisch aktiv wurde Böckel 1885, als er erste Artikel in antisemitischen Blättern wie dem „Reichsgeldmonopol“, Organ des antisemitischen Kasseler Reformvereins (gegr. 1881) um Ludwig Werner, veröffentlichte. Er nahm einen rasanten Aufstieg als Politiker, denn bald wurde man in Berlin auf ihn aufmerksam, wo im selben Jahr erste Auftritte erfolgten. Dem Kasseler Reformverein trat er bei und organisierte dort Pfingsten 1886 mit Werner den dritten Antisemiten-Kongress.
Im August 1886 gründete Böckel einen Marburger Reformverein. Bei den im Februar 1887 anstehenden Reichstagswahlen zunächst als Kandidat für den Wahlkreis Kassel-Melsungen vorgesehen, kam es Ende 1886 zum Bruch mit dem Kasseler Reformverein. Böckel beschloss daraufhin, für den Wahlkreis Marburg-Frankenberg zu kandidieren. Wegen Boykotts des Abdrucks seiner Wahlkampfaufrufe durch die lokalen Zeitungen gründete er mit dem Reichs-Herold ein eigenes Organ, dessen Probenummer im Januar 1887 erschien. Er initiierte in kürzester Zeit eine beispiellose Wahlkampagne mit zahllosen Auftritten auf dem Lande, Pamphleten und Plakaten mit dem Ergebnis, dass er auf Anhieb 56,6 Prozent der Stimmen erhielt. 1890 vermochte er sein Ergebnis gar auf 64,8 Prozent zu steigern. Danach sank sein Stern. 1893 und 1898 musste er jeweils in eine Stichwahl, gewann aber auch diese nochmals. War er 1887 der einzige dezidiert antisemitische Abgeordnete im Reichstag, so erreichten die Antisemiten 1893 bereits Fraktionsstärke, fast die Hälfte von ihnen waren Hessen.
Die ökonomische Situation verbesserte sie sich in dem agrarisch geprägten und wirtschaftlich rückständigen Kurhessen nach dem Anfall an Preußen 1866 gerade nicht, sondern verschärfte sich aufgrund von Steuererhöhungen und dem nun verpflichtenden Militärdienst. Besonders schwer traf es die Bauern, welche häufig hoch verschuldet waren und von denen so mancher in Konkurs geriet. Verglichen damit erlebten etliche Juden aufgrund der ihnen erwachsenen Spielräume durch die Emanzipation und der sich ihnen bietenden Chancen durch ihre gewohnte Geschäftstätigkeit mit Waren und Kapital auf dem Lande eine wirtschaftliche Verbesserung. Häufig waren sie Kreditgeber von Bauern.
Böckel nahm die gesellschaftlichen Veränderungen und die soziale Not der Landbevölkerung sensibel wahr, personifizierte jedoch diese strukturelle Krise: Die Juden verunglimpfte er als Güterschlächter, machte sie zu Sündenböcken für das Elend der Bauern. Er formulierte eine Sozialkritik und soziale Forderungen, die ihn stark von den konservativen Antisemiten abhob. Trotz durchaus progressiver Programmatik vertrat er ein anti-modernes Gesellschaftsbild, das die bäuerliche Kultur als urtümlich und rein ansah. Letztlich hing Böckel einer rückwärtsgewandten, vorkapitalistischen Gemeinschaftsidylle an, für die die Juden als Verkörperung des abgelehnten Neuen eine Gefahr darstellten. Ihre bürgerliche Gleichstellung wollte er abschaffen und sie unter Fremdenrecht stellen.
Für die fulminanten Erfolge Böckels lassen sich verschiedene Faktoren ausmachen. Wegen seiner langjährigen Beziehungen zur hessischen Landbevölkerung wusste er ihren „Nerv“ zu treffen. Mit Charisma und großem rhetorischen Talent versehen, zog er mit unermüdlicher Versammlungstätigkeit über die Dörfer. Er verfolgte damit eine neue Wahlkampfstrategie, die er mit Flugblättern, Plakaten und Mundpropaganda zusätzlich unterstützte. Ferner verknüpfte er in dem zweimal wöchentlich erscheinenden und rasch auflagenstarken Reichs-Herold geschickt seine politische Propaganda mit sozialen Aspekten, lokalen Nachrichten und praktischen Hilfestellungen. In dem gleichnamigen Verlag publizierte er weitere, direkt die Bauern ansprechende einschlägige Propagandaschriften. Schließlich bot er den Bauern konkrete Hilfestellungen an, indem er Genossenschaftskassen und Konsumvereine gründete. Diese bildeten jedoch nur ein Strohfeuer: Schnell stellte sich heraus, dass vielfach das nötige Know-how bei Böckel und anderem Führungspersonal fehlte, außerdem wurden diese Organisationen in finanzieller Hinsicht in den Dienst der Parteiarbeit gestellt, was sie wirtschaftlich schwächte und moralisch diskreditierte.
Böckels Scheitern hatte am Ende viel mit dem seiner sozialpolitischen Projekte zu tun, außerdem mit der Konkurrenz innerhalb der antisemitischen Bewegung. Hinzu kamen die aktiv betriebenen Reformen von Seiten des Staates, die den Bauern tatsächlich eine Hilfe bedeuteten. Die staatlicherseits initiierten Genossenschaftskassen und Konsumvereinigungen zeitigten einen wirksamen Erfolg. Es entwickelte sich aber auch aktive bürgerliche Gegenwehr, die publizistisch und auf juristischem Feld ausgetragen wurde.
Nachdem 1890 gleich fünf Antisemiten in den Reichstag eingezogen waren, wurde dieses vornehmlich in Kreisen Liberaler allmählich als bedrohlich empfunden. So kam es Ende 1890 in Berlin zur Gründung des Vereins zur Abwehr des Antisemitismus. Der Verein unterhielt neben seinem Hauptbüro weitere in antisemitischen Hochburgen, darunter eines in Marburg. Die Mitgliederzahl stieg im ersten Jahr auf rund 12.000 an, auch viele Juden wie der Frankfurter Bankier Hallgarten bildeten ein wichtiges, auch finanzielles Rückgrat des Vereins. Ende 1891 begann der Verein mit der Herausgabe seiner wöchentlich erscheinenden Mittheilungen zur Abwehr des Antisemitismus. Als Mittel der Aufklärung bediente man sich logischer Argumentation und Rationalität, Appellen an kultivierte Humanität und „echtes Deutschtum“.
Einer der aktivsten Repräsentanten dieses Vereins war der Marburger Staatsarchivar Dr. Georg Winter, ein Nationalliberaler. Vorsitzender in Marburg war pikanter Weise Böckels Doktorvater, Prof. Edmund Max Stengel. Der Marburger Ableger des Vereins, namentlich Winter, reagierte förmlich spiegelbildlich auf die Böckelbewegung. Er entwickelte seinerseits eine rege, auch die Dörfer einbeziehende Versammlungstätigkeit. Darüber hinaus engagierte er sich stark publizistisch, unter anderem mit einer Fortsetzungsserie, betitelt als „Der Antisemitismus in Kurhessen und seine Bekämpfung“, in der er Böckels Praktiken sowie dessen Fehlschläge in seinen Maßnahmen zur Verbesserung der Lage der Bauern entlarvte. Das Marburger Büro des „Abwehrvereins“ bot zudem der Landbevölkerung seinerseits juristische Beratung an. Mit großem Engagement trat dieser Verein also entschieden und kontinuierlich öffentlich gegen Böckel und seine Anhänger auf und machte so den Antisemiten das Feld streitig. Dass Böckel 1893 in die Stichwahl gehen musste, dürfte auch ein Verdienst der Marburger Aktivisten dieses Vereins gewesen sein.
Böckel griff in seinem Reichs-Herold Juden teilweise namentlich, teilweise anonym, aber dennoch eindeutig identifizierbar an, würdigte sie herab, verleumdete sie, stellte krasse Falschbehauptungen auf und wirkte dadurch gezielt geschäftsschädigend. Im Staatsarchiv Marburg ist eine ganze Reihe von Privatklagen jüdischer Geschäftsleute aus verschiedenen Teilen Hessens und darüber hinaus erhalten, die deren Gegenwehr belegen. Die Klagen lauten in der Regel auf Beleidigung. In den wenigsten Fällen kam es jedoch zu einer Verurteilung, weil Böckel als Abgeordneter Immunität genoss, sich die Prozesse hierdurch so lange hinzogen, bis die Angelegenheiten verjährt waren. Dennoch belegen sie ein selbstbewusstes Auftreten der betroffenen Juden, die sich nicht in eine passive Opferrolle verkrochen.
(We)
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