4. Stadt und Land - wirtschaftliche und soziale Spielräume
In der Zeit, als die Landgrafschaft Hessen-Kassel Teil des Königreichs Westphalen war, öffneten sich den Juden völlig neue Möglichkeiten der ökonomischen Entwicklung und der sozialen Integration. 1808 hob König Jérôme Bonaparte den Zunftzwang auf, im Folgejahr führte er die Gewerbefreiheit ein und stellte die Juden allen anderen Staatsbürgern rechtlich gleich. Nun war es Juden erlaubt, ihre beruflichen Betätigungsfelder auszudehnen und neue für sich zu gewinnen, auch bestanden prinzipiell keine Schranken mehr, sich an einem Ort seiner Wahl anzusiedeln.
Doch mit dem Untergang des Königreichs Westphalen und der Restitution Kurhessens 1814/1815 wurde die Teilhabe der Juden an den bürgerlichen Errungenschaften wieder zurückgenommen. Eine ganze Reihe von Verordnungen stellte erhebliche Teile der alten Rechtsverhältnisse wieder her. Den Auftakt bildete die Verordnung vom 14. Mai 1816. Auch wenn diese vorgab, „gleichförmige Verhältnisse der jüdischen Glaubensgenossen als Staatsbürger“ anzustreben und beabsichtigte, die ökonomische Situation und die Juden selbst als Mitglieder der Gesellschaft „zu bessern“ und sie zu integrieren, so gelang dies, wenn überhaupt, nur in kleinen Schritten.
Einerseits waren die restriktiven Regeln selbst, denen die Juden nun – erneut – unterworfen wurden, wenig geeignet, ihre soziale und wirtschaftliche Lebenssituation zu verbessern, geschweige denn, dass sie ihnen echte Chancen gesellschaftlicher Integration geboten hätten. Andererseits stellte sich ihnen die nun wieder weitgehend etablierte ständisch geprägte soziale Ordnung in den Weg. Die staatlichen Regelungen und Maßnahmen sorgten sich zuvorderst um die „eigene“ christliche Bevölkerung und bezweckten, die wirtschaftliche Konkurrenz der Juden zu minimieren, beispielsweise den Nothandel einzuschränken. Daher durfte ein jüdischer Haushalt, der sich vom Handel ernährte, nur an einen (!) Sohn übertragen werden. Die anderen Söhne mussten sehen, wie sie ihr Leben bestreiten konnten.
Beabsichtigte die Verordnung von 1816 auch erklärtermaßen, Juden den Zugang zum Ackerbau und zum Handwerk zu eröffnen, so erwies sich dies in der Praxis als überaus schwierig. Denn im Jahr 1816 wurde auch die alte Zunftverfassung wieder eingeführt, die zwar formal die Aufnahme von Juden nicht verbot, doch entschieden darüber die Zünfte selbst und verschlossen sich häufig jüdischen Aufnahmeanträgen. Erst nach Jahren sollte es einzelnen Juden gelingen, beruflich im Handwerk Fuß zu fassen. Beinahe ausgeschlossen war ein Umstieg auf die Landwirtschaft, da es hierfür erforderlich war, in größerem Umfang Grund und Boden zu erwerben, was den Juden nur ausnahmsweise ermöglicht wurde. In Einzelfällen konnten sie in der Verwaltung Fuß fassen.
Die Statistik 1842 für den Kreis Marburg dokumentiert für das Kurfürstentum Hessen-Kassel typische Verhältnisse: Von 346 Juden, die insgesamt im Kreis lebten, waren 72 als erwerbstätig registriert, davon 41 als Händler und 13 als Handwerker (=18%); sechs arbeiteten im öffentlichen Dienst und zwei als Bauern. Im selben Jahr betrieben in Kurhessen 65% der Juden Handel und immerhin 25% waren im Handwerk untergekommen.
Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts lebte der Großteil der jüdischen Bevölkerung in Kleinstädten oder Dörfern, und der Schwerpunkt der wirtschaftlichen Betätigung blieb der Handel. Einige Handelszweige, wie der Ellenwaren-, Vieh- und der Fellhandel sowie der Geldverleih, wurden sogar fast ausschließlich von Juden betrieben, und der Immobilienhandel lag zunehmend in jüdischen Händen. Das heißt, dass sich an der Lage der Juden nur graduell etwas geändert hatte: Sie blieben eine religiöse Minderheit und betrieben in der großen Mehrheit in bestimmten Bereichen Handel und Kreditgeschäfte, was ihnen eine sich langsam verbessernde Lebensgrundlage bot.
Doch suchten zum Ende des 19. Jahrhunderts viele Juden ihr Glück in der Stadt. Denn spätestens nach der Annexion Kurhessens durch Preußen erfuhren die Industrialisierung und die Entwicklung der Verkehrsinfrastruktur auch in Hessen weiteren Auftrieb. Das Wachstum der Städte bestimmte nun die Entwicklung. Vor allem eröffneten die Gewerbe- und Niederlassungsfreiheit der jüdischen Bevölkerung vergleichsweise gute Perspektiven. Der Handel profitierte unmittelbar von den Industrieprodukten, und vor allem wuchs der Bedarf an Kapital. Teilen der jüdischen Bevölkerung gelang nun der wirtschaftliche Aufstieg. Besondere Erfolge konnten einige Handelsgeschäfte verbuchen, insbesondere aber die jüdischen Banken, in Marburg namentlich die Bank Hermann Wertheim, das Bankhaus Baruch Strauß und die Privatbank Eichelberg.
Anders als in den Städten gerieten die ländlichen Erwerbszweige, und vor allem die Landwirtschaft, immer stärker in Bedrängnis. Dies führte vielfach dazu, dass Bauern die nun unbeschränkten Möglichkeiten nutzten, Kredite bei jüdischen Gläubigern aufzunehmen. Da die Juden im Grundstückshandel Gewinnabsichten suchten und ihnen im Insolvenzfall die als Sicherheit gebotenen Grundstücke und Immobilien zufielen, nährte dies gerade auf dem Lande den Vorwurf des jüdischen „Güterschachers“. In der Tat eröffneten der Handel und die Kreditgeschäfte der ländlichen jüdischen Bevölkerung nun immer noch bescheidene, insgesamt aber deutlich bessere wirtschaftliche Möglichkeiten.
(Hg)
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