3. Zwischen Aufklärung und Antisemitismus - Universität und Juden
Das Universitätsstudium war Juden über Jahrhunderte verschlossen. Erst im 18. Jahrhundert öffneten die Universitäten ihre Türen zumindest einen Spalt weit. Marburg war nach Frankfurt an der Oder, Halle und Gießen die vierte deutsche Universität, die Juden den Zugang ermöglichte. Von den ersten jüdischen Studenten gibt uns die Matrikel allerdings keine Nachricht, denn eine Immatrikulation und damit die Verleihung des akademischen Bürgerrechts blieb ihnen in Marburg versagt. Aus einer Gießener Quelle ist aber bekannt, dass sich bereits um 1710 jüdische Hörer in den Veranstaltungen von Marburger Medizinprofessoren fanden.
Medizin war das Studienfach, das sich zuerst für jüdische Studenten öffnete. Es war auch auf jüdischer Seite beliebt, denn Ärzte genossen im Judentum hohes Ansehen. Die Anstellung eines Arztes zählte zu den religiösen Pflichten jüdischer Gemeinden.
Ebenso geschah die Verleihung des Doktorgrades an Juden zuerst in der Medizinischen Fakultät. In Marburg wurde mit Nathanael Speyer 1758 der erste jüdische Arzt promoviert. Ihm folgten im 18. Jahrhundert noch drei weitere jüdische Promovenden: 1775 Jordan Israel aus St. Goar, 1776 Joseph Speyer aus Kassel und 1796 Heinemann Wolff aus Marburg.
Die erste Promotion eines Juden erschien der Fakultät so heikel, dass sie sich zunächst in Kassel bei ihrem Landesherrn eine Genehmigung einholte. Sie hatte gegenüber dem Landgrafen auf die bereits an anderen deutschen Universitäten erfolgten Promotionen von Juden hingewiesen und auch angemerkt, dass die Verleihung eines Doktorgrades an Juden den Privilegien der Hochschule nicht entgegenstünde. Nach erteilter Genehmigung wurde der Akt mit einer angepassten Eidesformel vorgenommen. 17 Jahre später erörterte die Universität die Problematik der Promotion eines jüdischen Aspiranten erneut und erarbeitete ein Prozedere, nach dem in Zukunft verfahren werden sollte. Im Besonderen wurde bestimmt, dass der Promotionsakt ohne Festlichkeiten vor sich gehen sollte und eine an die Religion des Doktoranden angepasste Verpflichtungserklärung zu würdigem Verhalten und Lebenswandel von diesem zu unterschreiben war.
In den 1780er Jahren gestattete der Landgraf schließlich auch die Einschreibung jüdischer Studenten in die Matrikel der Universität Marburg. Der vermutlich erste immatrikulierte jüdische Student war am 12. April 1786 der schon erwähnte Heinemann Wolff. Ihm folgten bis zum Ende des Jahrhunderts aber nur sehr wenige weitere Juden. Sicher belegt sind nur vier jüdische Studierende. Erst das 19. Jahrhundert brachte ein stärkeres Ansteigen der Zahlen.
Eine Besonderheit ist dabei, dass ab 1823 erstmals eine Prüfung und ab 1824 die Ausbildung von Rabbinern der Landesuniversität zugewiesen wurde. Künftige Rabbiner sollten ein zweijähriges Studium absolvieren und durch „die geeigneten Mitglieder der Philosophischen Fakultät“ geprüft werden. Selbstverständlich wurde diese Prüfung durch eine weitere vor dem Landesrabbinat ergänzt. In der Matrikel begegnet nun gelegentlich als Studienfach „Theologia Mosaica“. Im Jahr 1825 legte der erste angehende Rabbiner seine Prüfung in Marburg ab.
Immatrikulation und Promotion waren wichtige Meilensteine auf dem Weg der Juden in die akademische Welt. Im 19. Jahrhundert eröffneten sich ihnen auch die Habilitation und Dozentur, aber der Platz auf dem Lehrstuhl blieb ihnen weiterhin versagt. In Marburg mussten der Altphilologe und Historiker Joseph Rubino und der Mediziner Leopold Eichelberg diese bittere Erfahrung machen. Rubino wurde erst nach seiner Konversion zum Christentum zum ordentlichen Professor berufen. Eichelberg kam, obwohl er der Universität bis zu seinem Tod lehrend verbunden blieb, nie über den Status des Privatdozenten hinaus. Erst Hermann Cohen gelangte als Jude auf eine ordentliche Professur der alma mater marburgensis.
Die erfreuliche Tendenz der Entwicklung, die auf Integration und Emanzipation der Juden auch in Universität und Wissenschaft hinzuweisen schien, stieß freilich bei einem nicht geringen Teil selbst der Gebildeten auf Ablehnung, die zum Ende des 19. Jahrhunderts sogar zunahm und politische Organisationsformen fand. So übte die antisemitische Böckelbewegung gerade auf Studenten eine nicht unerhebliche Anziehung aus. Aber auch das universitäre „Establishment“ der Professoren und Beamten übte sich häufig in stillschweigender Billigung antijüdischer Haltungen. Der ordentliche Professor der abendländischen Sprachen und Literaturen Edmund Max Stengel war einer der wenigen, der dem grassierenden Antisemitismus entschieden entgegentrat.
In vielen studentischen Korporationen wurde ein offensiver Antisemitismus gepflegt. Jüdische Studenten sahen sich Herabwürdigungen und Beleidigungen ihrer Kommilitonen ausgesetzt, die – wenn überhaupt – nur milde seitens der Universität sanktioniert wurden. Dem Verein jüdischer Studenten verweigerte der Ausschuss der Korporationen an der Universität Marburg die Aufnahme mit der Begründung, „dass der nationale Charakter der aufzunehmenden Korporation […] nicht vorhanden ist.“ Auch die Entgegnung, „dass unsere Korporation auf deutsch-vaterländischem Boden steht“, änderte die Haltung des Ausschusses nicht.
Das Verhältnis der Universität zu ihren jüdischen Angehörigen zeigte im langen 19. Jahrhundert einen Januskopf, dessen Gesichter beide in die Zukunft wiesen. Eines blickte auf Gleichberechtigung und Miteinander, das andere fratzenhaft verzerrt in die Abgründe des kommenden 20. Jahrhunderts.
(Li)
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