2. Der "Zick-Zack-Kurs" der Emanzipation
Ende des 18. Jahrhunderts setzte als Folge der Aufklärung, aber auch der verstärkten Wahrnehmung der prekären und marginalisierten Lebensumstände des weit überwiegenden Teils der Judenschaft eine allgemeine Diskussion über die Hebung ihrer wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse ein. Als Auslöser und Markstein kann die 1781 veröffentlichte und breit rezipierte Schrift des preußischen Beamten Christian Wilhelm Dohms mit dem Titel „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden“ gelten. Dohms setzte die Eckpunkte, entlang derer in den folgenden Jahrzehnten argumentiert und auch entschieden wurde, freilich in jedem deutschen Territorium mit unterschiedlichen Lösungen, mit Fortschritten und Rückschritten, weswegen die Emanzipation der Juden zu einem „Zickzack-Kurs“ geriet. Dohms hatte einerseits die volle rechtliche und politische Gleichstellung der Juden gefordert, andererseits formulierte er die Idee, Juden müssten sich sozial und kulturell „verbessern“, und vermischte somit die Emanzipation mit einem Erziehungsprozess. Je nachdem, wie stark die Gewichte der jeweiligen Argumentation die Waagschale in Richtung Erziehungsprozess neigten, beeinflussten sie Art und Umfang der zugestandenen Rechte.
In Kurhessen verlief die Entwicklung nicht wesentlich anders. 1807 gelangte das eben gegründete Kurfürstentum unter französische Herrschaft. Für die Juden bedeutete dieses eine Befreiung, wurden sie doch seit 1808 mit einem Federstrich aller rechtlichen Einschränkungen und Sonderabgaben ledig und gleichberechtigte Bürger des Staates. Diese Phase währte indessen nur kurz. Nach den Befreiungskriegen konnte man in Kurhessen das Rad jedoch nicht vollends wieder zurückdrehen. Man rezipierte die Judengesetzgebung anderer deutscher Territorialstaaten, und die Diskussionen zeigen, dass auch hier aufklärerische Ideen Einzug gehalten hatten. Sie mündeten in eine Verordnung vom 14. Mai 1816, in der die Dichotomie von Gleichberechtigung und Erziehungsgedanken deutlich ausgeprägt war. Denn die Juden erlangten die bürgerliche Gleichstellung nur unter Einschränkungen. Die jüdische Unterschicht, welche vom sog. Nothandel (Viehhandel im Kleinen, Leih-, Hausier- und Trödelhandel) lebte, blieb von den bürgerlichen Rechten gänzlich ausgeschlossen. Ihre Existenz wurde restriktiven Bedingungen unterworfen: Pflicht, einen Schutz- oder Toleranzbrief zu erlangen, und Verbot zu heiraten. Den übrigen wurde zwar gestattet, ja es war sogar gewünscht, ihre Wirtschaftstätigkeit in Handwerk und Landwirtschaft zu entfalten, doch auch dieses nur unter Einschränkungen und Zwangsmaßnahmen. In der Öffnung von Handwerk und Landwirtschaft kam auch ein erzieherischer Aspekt zum Tragen, denn expressis verbis beabsichtigte man die Juden von dem allgemein als volkswirtschaftlich und moralisch verderblich betrachteten Handel abzubringen. Die Voraussetzungen, um sich in diesen Sektoren tatsächlich zu etablieren, waren für die Juden freilich ausgesprochen ungünstig.
Die kurhessische Judengesetzgebung machte im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts kaum Fortschritte. Aufgrund des Einflusses der Julirevolution 1830 in Frankreich kam zwar eine Verfassungsdiskussion in Gang, die auch die Stellung der Juden in den Blick nahm. In der Verfassung von 1831 wurde aber dennoch die Ausübung bürgerlicher und staatsbürgerlicher Rechte auf Christen aller Konfessionen beschränkt, während die Rechte der Juden besonders geregelt werden sollten. Das entsprechende Gesetz von 1833 zeitigte kaum Fortschritte gegenüber 1816, lediglich der Zugang zu öffentlichen Ämtern und das passive Wahlrecht wurden jetzt zugestanden. Von alledem waren jedoch die Nothändler weiterhin ausgeschlossen, sie mussten hingegen alle drei Jahre ihre Konzessionen erneuern lassen. Errungenschaften der 1848er Revolution, in deren Gefolge Kurhessen allgemeine Religionsfreiheit gewährt und als Konsequenz auch die Diskriminierung der Nothändler aufgehoben hatte, wurden mit der Verfassung von 1852 wieder rückgängig gemacht. Insbesondere diese „Zwei-Klassen-Gesellschaft“ unter den Juden blieb bis zum Anfall an Preußen 1866 erhalten. Die volle Emanzipation erlangten die vormals kurhessischen Juden so erst durch das Gesetz des Norddeutschen Bundes von 1869, das alle noch bestehenden, aus dem religiösen Bekenntnis herrührenden Einschränkungen der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte aufhob.
(We)
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