1. Mittelalterliche Vorstellungswelten
Tafel 1: Europa im 15. Jahrhundert
Das 15. Jahrhundert ist eine Zeit der existentiellen Verunsicherung im weltlichen wie auch religiösen Lebensgefühl. Die überkommene Ordnung der Welt scheint in Auflösung, Umbrüche und Katastrophenerfahrungen bestimmen das Bewusstsein der Menschen. Während die Osmanen mit der Eroberung von Konstantinopel (1453) das Ende des byzantinischen Christentums besiegeln und scheinbar unaufhaltsam nach Mitteleuropa vordringen, droht das christliche Europa in andauernden Kriegen und im Kampf der führenden Mächte um die Vorherrschaft zu zerfallen. Verheerende Pestepidemien und Hungernöte ängstigen die Bevölkerung - sie werden als verdiente Strafe Gottes interpretiert.
Missstände in der römischen Kirche und Machtkämpfe des Papsttums, die in eine Spaltung mit drei Päpsten münden und die als abendländisches Schisma (1378-1417) bekannt wird, rufen in ganz Europa Kritik hervor. Die Forderungen nach Reformen werden immer lauter. Manche Prediger nutzen die Stimmung, um das Ende der Welt zu prophezeien, das Jüngste Gericht wird zum Thema literarischer wie künstlerischer Werke. Die in der Offenbarung des Johannes geschilderten apokalyptischen Visionen des Weltuntergangs erfüllen viele Menschen mit tiefer Angst, da sie davon überzeugt sind, dass das Gericht Gottes unmittelbar bevorstünde. Der Tod wird zu einem wiederkehrenden Motiv – das sich durch das 14. und 15. Jahrhundert hindurch zieht. Der Tod wird häufig als einer der vier apokalyptischen Reiter, die Sense schwingend und Seuchen aussäend, dargestellt. So wird er auch zur Allegorie der Gleichheit, einerseits derjenigen der Menschen untereinander, und zwar unabhängig von der Zugehörigkeit zu einem Stand, wie auch andrerseits derjenigen von Lebenden und Toten, wie es in den Darstellungen der “Totentänze” zu sehen ist.
Mit der Angst vor dem Jüngsten Gericht wächst die Bedeutung der Sünde und des Fegefeuers, das seit seiner Erfindung in der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts als dritter Ort, als läuternde, jedoch zeitlich unbestimmte Vorstufe für das Himmelreich, mehr und mehr Gewicht bekommt. Die daraus entstehende Verängstigung und die Sehnsucht nach jenseitiger Sicherheit führen dazu, dass man sich wünscht, die Zeit im Fegefeuer verkürzen zu können. Es entsteht die Idee des diesseitigen Ablasses: Durch den Kauf von sog. Ablassbriefen wird ein kürzerer Aufenthalt im Fegefeuer versprochen. Der Handel mit der jenseitigen Erleichterung nimmt exzessive Formen an: Vor allem der Vatikan braucht Geld für die Prachtentfaltung eines verweltlichten Papsttums. Das geschäftliche Agieren der Amtskirche wird sowohl von Teilen des Klerus als auch von weltlicher Seite heftig kritisiert, denn es wird als Abweichung von der Lehre Jesu gesehen.
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