1. Leben im Industriezeitalter: Gesellschaft und Jugend um 1900
Deutschland um 1900: mittlerweile hat die Industrialisierung alle Lebensbereiche durchdrungen. Die Städte wachsen schier unaufhaltsam, allerorten entstehen riesige Fabriken und Arbeiterwohnviertel. In den Vororten der Städte gestaltet sich das Bürgertum moderne Wohnbereiche; hier wird dem Fortschritt der Wissenschaften gehuldigt und man begeistert sich für Kaiser, Militär und Technik. Gleichzeitig steht dem uneingeschränkten Fortschrittsglauben eine Vielzahl lebensreformerischer Strömungen entgegen. Die Zeit um 1900 ist von Polaritäten geprägt: Moderne und Gegenmoderne, progressives und reaktionäres Gedankengut, Großstadtbegeisterung und Natursehnsucht, städtische Elendsquartiere und behagliche Gartensiedlungen.
In diesem Umfeld entstand im Berliner Vorort Steglitz die Wandervogelbewegung: Jungen und Mädchen aus bürgerlichem Haus, die der sonntäglichen Kaffeetisch-Tristesse entfliehen und unter ihresgleichen jung sein wollten. An der Schwelle zum Erwachsenwerden ließen sie die Kindheit hinter sich und entdeckten „Jugend“ als eigenen Lebensabschnitt. Mit dem Auszug „Aus Grauer Städte Mauern“ erschlossen die Wandervögel erstmals und beispielhaft für die Jugendgruppen späterer Generationen jugendbewegte Freiräume abseits der Erwachsenenwelten.
Die Wandervögel sind als Teil der weltweit aufkommenden Reformbewegungen zu sehen, die nach Antworten auf die Spannungsfelder in den industrialisierten Gesellschaften suchten. So formulierte etwa E.T. Seton 1902 in den USA Woodcraft als neues Erziehungskonzept auf der Grundlage von Natur- und Gemeinschaftserlebnis unter Rückgriff auf indianische Traditionen. Die darauf basierende Woodcraft-Bewegung beeinflusste wiederum das internationale Pfadfindertum und ab den 1920er Jahren auch die deutsche Jugendbewegung.
Anfragen zu Reproduktionen in hoher Auflösung und druckfähige Vorlagen erhalten Sie von der unter Bestand/Sign. genannten Einrichtung.