16. Juden im Kaiserreich: Zwischen Emanzipation und modernem Antisemitismus
Mit der Reichsgründung 1871 waren deutsche Juden gleichberechtigte Bürger. Nicht überwunden waren Ressentiments und Vorbehalte, die sich weiterhin in Antijudaismus, Antisemitismus oder latenter und offener Diskriminierung zeigten. Geforderte und vollzogene Assimilation und Antisemitismus bilden die beiden Pole, zwischen denen sich das Verhältnis von jüdischen und nichtjüdischen Deutschen im Kaiserreich bewegt. Es gab auf der einen Seite die Bereitschaft eines Teils der jüdischen Bevölkerung zu einer völligen Übernahme der dominanten protestantisch-liberalen Kultur bis hin zum Religionsübertritt, auf der anderen Seite nahm die Ausgrenzung und Diffamierung aller Juden zu, die sich spätestens seit den 1870er Jahren mit rassistisch-völkischem Denken verbindet.
Einzelne Juden rückten nun in hohe gesellschaftliche Positionen auf, zum Teil in Verwaltung, manchmal auch im Universitätsbetrieb, wenn auch seltener mit ordentlichen Professuren. In wachstumsorientierten Industriezweigen sowie im Verkehrs- und Transportwesen waren Juden als Unternehmer tätig. Auch bei Erfindungen und technisch verwertbaren Entdeckungen war der Anteil jüdischer Persönlichkeiten hoch, so in den Naturwissenschaften. In der Physik formulierte Albert Einstein die allgemeine Relativitätstheorie. Es gab sehr viele jüdische Bankiers, Rechtsanwälte, Ärzte und Künstler.
Politisch und gesellschaftspolitisch gab es unter den jüdischen Verbänden entgegengesetzte Richtungen auf, die einerseits für Zuwendung zur modernen Gesellschaft und starke Assimilation eintraten, andererseits die Traditionen des Glaubens zu konservieren suchten. Eine Dachorganisation war der Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens ab 1893, der die Assimilation an die deutsche Gesellschaft vertrat.
Daneben kam auch als Reaktion auf den zunehmenden Antisemitismus in Deutschland wie auch in anderen Teilen Europas der Zionismus nach Theodor Herzl auf, der im Deutschen Reich durch die Zionistische Vereinigung für Deutschland eine Vertretung fand.
In der ersten Krise des Kaiserreichs wurden alte antijüdische Ressentiments reaktiviert und neue antisemitische Zuschreibungen formuliert. Der „jüdischer Geist" wurde von Antisemiten gleichgesetzt mit allen negativen Auswirkungen der Modernisierungsprozesse, zum Teil auch mit Kapitalismus und Ausbeutung. Der Historiker Heinrich von Treitschke warnte 1879 vor dem angeblich großen jüdischen Einfluss in der Gesellschaft: „Die Juden sind unser Unglück“, schrieb er unter anderem. Damit löste er den Berliner Antisemitismusstreit aus.
Die erste antisemitische Partei gründete der evangelische Hofprediger Adolf Stoecker in den Jahren 1878/9. Die Christlich-Soziale Arbeiterpartei, umbenannt in Christlich-Soziale Partei nahm dabei die Position eines traditionellen christlichen Antijudaismus ein. Von 1881 bis 1896 schloss sich die Partei der Deutschkonservativen Partei an, deren Programm („Tivoli-Programm“ 1892) die Forderung nach „christlicher Obrigkeit und christlichen Lehrern“ aufstellten und den Kampf gegen den „zersetzenden jüdischen Einfluß“ auf die Tagesordnung setzte.
Den größten Zulauf erreichten die antisemitischen Parteien, die sich in ihrer Vielzahl oft spalteten und neu zusammenschlossen, bei den Reichstagswahlen 1893, als sie mit 2,9 Prozent der Stimmen 16 Mandate erringen konnten. Obwohl die antisemitischen Parteien später an Einfluss verloren, bekannten sich Vereine und Verbände offen zum Antisemitismus. In hessischen Raum war die Bewegung um Otto Böckel zeitweilig sehr erfolgreich.
Ideologisch waren die Parteien und Bewegung mit sozialdarwinistischem Gedankengut neu aufgestellt. Sie fanden die rassistische Begründung des Antisemitismus bei Gobineau auf, im deutschen Sprachraum bei dem Philosophen Eugen Dühring, der seit 1881 entsprechend publizierte.
Udo Engbring-Romang
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