26. Die Vernichtung des Judentums: Von der Pogromnacht 1938 bis zum Holocaust
1. Novemberpogrom 1938 und eliminatorischer Rassenantisemitismus[1]
Trotz jahrzehntelanger intensiver Forschung und einer kaum mehr zu überschauenden Fülle von Publikationen zum Novemberpogrom 1938 ist bis heute nicht vollständig geklärt bzw. nach wie vor strittig, wie der Ablauf der Ereignisse in München am 9./10. November 1938 im Zusammenspiel mit den frühen Pogromen in Nordhessen seit dem 7. November 1938 zu deuten ist. Handelte es sich hier um eine mehr oder weniger „spontane“ Reaktion aus der Bevölkerung auf den Mordanschlag auf den Legationssekretär an der deutschen Botschaft in Paris, Ernst vom Rath, die Reichspropagandaminister Goebbels geschickt zu nutzen wusste - oder um eine zielgenaue „Inszenierung“ des Pogroms durch das NS-Regime und eine zentral gelenkte Eskalationsstufe in der Durchsetzung seines eliminatorischen Rassenantisemitismus?
Folgt man Hans Mommsen und der Denkschule der „Funktionalisten“, die das NS-System als Form polykratischer Herrschaft und den Holocaust primär als Ergebnis einer „kumulativen Radikalisierung“ auf der Grundlage einer letztlich selbstzerstörerischen Ämter- und Institutionenrivalität interpretieren,[2] dann ging der Novemberpogrom auf die „persönliche Initiative“ von Goebbels zurück, während Hitler von den Vorgängen „im einzelnen [...] keine Kenntnis besaß“.[3] Insofern könne jedenfalls nicht von einer vorgeplanten und inszenierten Aktion des NS-Staats die Rede sein,[4] ebenso wie auch die „Endlösung“ der europäischen Judenfrage nicht von langer Hand vorbereitet gewesen sei.[5] Die „Intentionalisten“ dagegen sehen in der Vernichtung der europäischen Juden eine zielgerichtete Umsetzung der antisemitischen Ideologie der 1920er Jahre, eine Obsession, die bereits in Hitlers frühen Äußerungen und Schriften enthalten war[6] und die mit Billigung Hitlers als der entscheidenden Führungsfigur des Dritten Reiches nach1933 Schritt für Schritt verwirklicht worden sei.
Vor dem Hintergrund der skizzierten Forschungskontroversen in der Deutung des Nationalsozialismus und in Sonderheit der Novemberpogrome 1938 kommt einer genaueren Analyse der Geschehnisse in Nordhessen durchaus eine Schlüsselrolle zu.
Noch am Tag des Pariser Attentats, also am 7. November 1938, kam es hier zu ersten gewalttätigen Übergriffen: In der Nacht vom 7./8. November wurden die ersten Synagogen in Kassel, Bebra, Sontra, Baumbach und Rotenburg verwüstet, und in den Landkreisen Kassel sowie Rotenburg fanden weitere schwere Ausschreitungen gegen jüdische Wohnungen und Geschäfte statt. Angeheizt von groß aufgemachten Berichten über das Pariser Attentat in der Kurhessischen Landeszeitung, dem Parteiorgan des Gaues Kurhessen der NSDAP, breiteten sich die Pogrome in der folgenden Nacht weiter aus. In Felsberg gab es am Abend des 8. November das erste jüdische Todesopfer in Kurhessen. Am selben Abend brannte in Hersfeld die erste Synagoge. In der Nacht des 8./9. November kam es ferner in Kirchhain im Kreis Marburg zu schweren Ausschreitungen mit zahlreichen Plünderungen, Misshandlungen und der völligen Verwüstung der Synagoge. Eine singuläre und wertvolle Quelle ist das Polizeibuch der Stadt Fulda, das zwar knapp, dafür aber vollständig die verschiedenartigen Vorkommnissen während des Novemberpogroms in der Domstadt mit Datum und Uhrzeit auflistet. Es dokumentiert eine Vielzahl an Ausschreitungen, die außer der Synagoge die Schule, jüdische Geschäftshäuser und Privatwohnungen sowie den jüdischen Friedhof betrafen der völlig zerstört wurde.
Auch Marburg gehörte zu den „frühen“ Tatorten: Ein erster dilettantischer Brandstiftungsversuch auf die Synagoge ist bereits für die Nacht vom 7./8. November nachweisbar, bevor das Gebäude dann in den frühen Morgenstunden des 10. November endgültig den Flammen zum Opfer fiel. Es folgte eine auffallend schnelle Sprengung noch am Abend des 10. November wegen angeblicher Einsturzgefahr der Kuppel. Diese Vorgehensweise entsprach einer wenig später eingehenden Generalanweisung der Gestapo Kassel, von einem „Wiederaufbau zerstörter oder ausgebrannter Synagogen … bis auf weiteres abzusehen.“
In den beiden Nächten vom 7. bis zum 9. November 1938 wurden nach Feststellung Kropats in fast allen Landkreisen des Regierungsbezirks Kassel in über zwei Dutzend Städten und Gemeinden Pogrome dieser Art verübt.[7] Aufgrund intensivierter lokalgeschichtlicher Forschungen seit den 1990er Jahren dürfte diese Zahl inzwischen nach oben zu korrigieren sein. So wurde zum Beispiel auch die Synagoge in dem Dorf Roth im Südkreis von Marburg am Abend des 8. November verwüstet, eine Brandstiftung unterblieb wegen angrenzender Fachwerkgehöfte.
Umfang und Verlauf der Pogrome in Nordhessen sind sich so ähnlich, dass eine Inszenierung und Steuerung dieser Aktionen wie auch des reichsweiten Pogroms vom 9./10. November von zentraler Stelle anzunehmen ist. Dazu gehört auch die strafrechtliche Niederschlagung der Vorgänge: So wurden die Staatsanwaltschaften umgehend angewiesen, in keinem Falle „Ermittlungen in Angelegenheiten der Judenaktionen“ vorzunehmen. Dementsprechend meldete zum Beispiel der Marburger Oberstaatsanwalt Otto Lautz dem Reichsjustizminister am 10. November, dass über die Brandursache „nichts“ zu ermitteln gewesen sei. Am 11. Januar 1940 folgte seine Verfügung: „Weglegen – Täter nicht ermittelt“.[8]
2. Die „Judenaktion vom 10.11.1938“ und die Pogromverordnungen vom 12. November 1938[9]
Mit den November-Pogromen unmittelbar verbunden war die sog. „Judenaktion vom 10.11.1938“, d.h. die auf ausdrückliche Weisung Hitlers erfolgte Verschleppung von annähernd 30.000 männlichen Juden in die Konzentrationslager Buchenwald, Dachau und Sachsenhausen. Die Juden aus dem Regierungsbezirk Kassel wurden – unter Mitwirkung der kommunalen Ortspolizeibehörden, der Landräte, Oberbürgermeister und Bürgermeister – in das KZ Buchenwald verbracht, wobei sie die Transportkosten selbst zu bezahlen hatten. Die Zahl der vom 10.-14. November 1938 in Buchenwald eingelieferten Juden belief sich auf insgesamt 9.845 (Abb. 37). Nach den Aufzeichnungen der Lagerverwaltung fanden 207 Juden während der Lagerhaft den Tod, darunter auch der aus Marburg stammende Gerson Isenberg.
Eine Schlüsselrolle im Kontext der Novemberpogrome nimmt die am 12. November 1938 unter dem Vorsitz Hermann Görings im Berliner Reichsluftfahrtministerium abgehaltene Besprechung zur Judenfrage ein. Die interministerielle Konferenz hatte den Zweck, die „entscheidenden Schritte“ auf dem Weg zur existentiellen Vernichtung des Judentums in Deutschland zentral zusammenzufassen. An der Sitzung nahmen die Minister bzw. die Staatssekretäre aller relevanten Ressorts sowie der Chef der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes, Reinhard Heydrich, teil. Nach einer Aufzeichnung des Auswärtigen Amtes hatte die Besprechung als Ergebnis: „Arisierung der Wirtschaft“ und „Enteignung von jüdischem Grundbesitz“, „Prüfung ... der Zwangsarbeit des jüdischen Proletariats“, „Verbot des Besuchs von Theatern“ usw., „Auferlegung einer einmaligen Kontribution von 1 Milliarde Reichsmark“ sowie Förderung der jüdischen Auswanderung „auf jede Weise“ (sog. Woermann-Protokoll).
Die Pogromverordnungen vom 12. November 1938 zur „Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben" usw. setzten diese Ziele unverzüglich in die Praxis um. Goebbels notierte anschließend triumphierend in seinem Tagebuch: „Jedenfalls wird jetzt tabula rasa gemacht“.[10]
3. Ghettoisierung, Deportationen und der Weg in den Holocaust 1939-1942/45
Dass die vollständige wirtschaftliche Existenzvernichtung dabei nicht mehr als eine Zwischenetappe war und spätestens zu diesem Zeitpunkt die physische Vernichtung des Judentums zur konkreten Handlungsperspektive des NS-Regimes geworden war, kann nicht wirklich bezweifelt werden.[11]
Ganz in diesem Sinne berichtete auch der Schweizer Botschafter in Paris, Stucki, am 15. November 1938 über ein vertrauliches Gespräch mit dem Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Ernst Freiherr von Weizsäcker, der aus Anlass der Trauerfeierlichkeiten für den verstorbenen Ernst vom Rath in der französischen Hauptstadt weilte. Die Stellungnahme von Weizsäckers zur „gegenwärtig akute[n] Judenfrage“ fasste Stucki wie folgt zusammen:
„Herr von W. hat nicht den geringsten Versuch unternommen, das zu verteidigen, was in letzter Zeit, illegal oder legal, gegen die Juden in Deutschland unternommen wurde. Ohne sich irgend etwas zu vergeben, gab er mir mit seinem grossen Bedauern darüber zum Ausdruck, dass nun wiederum in der ganzen Welt eine sehr schlechte Stimmung gegen Deutschland geschaffen wurde. Seiner Ansicht nach ist die national-sozialistische Partei derart im Kampf gegen das Judentum engagiert, dass sie nicht mehr zurück, ja nicht einmal mehr stillhalten kann. Die noch in Deutschland verbliebenen circa 500 000 Juden sollten unbedingt irgendwie abgeschoben werden, denn sie könnten in Deutschland nicht bleiben. Wenn, wie bisher, jedoch kein Land bereit sei, sie aufzunehmen, so gingen sie eben über kurz oder lang ihrer vollständigen Vernichtung entgegen.“[12]
Wie nicht zuletzt diese Äußerung des Staatssekretärs v. Weizsäcker belegt, herrschte auch bei führenden Exponenten der konservativen Eliten im Herrschaftssystem des NS-Staates nach der Pogromnacht 1938 keinerlei Zweifel mehr daran, dass nunmehr die finale Phase im eliminatorischen Antisemitismus des NS-Staates begonnen hatte. Die „Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa“, von Hitler am 30. Januar 1939 in öffentlicher Rede für den Fall eines neuen Weltkrieges angekündigt, [13] wurde als „Endziel“ der nationalsozialistischen Judenpolitik jetzt immer deutlicher erkennbar. Die Vernichtung vollzog sich dabei in verschiedenen Stufen, und zwar als planmäßiger, Schritt für Schritt erfolgender, administrativer Prozess.[14]
Nach den Novemberpogromen, der sog. „Judenaktion vom 10.11.1938“ und den Pogromverordnungen vom 12. November wurde nunmehr konsequent der Weg zu Vertreibung und Vernichtung beschritten. Hierzu erteilte Göring dem Chef der Sicherheitspolizei und des SD, Reinhard Heydrich, am 24. Januar 1939 den Auftrag zur Errichtung einer „Reichszentrale für die jüdische Auswanderung“. Diese hatte zum Ziel, die „Auswanderung der Juden aus Deutschland mit allen Mitteln zu fördern."
Mit Kriegsbeginn wurde die „Zwangsauswanderung“ jedoch obsolet. Es begann jetzt die Ghettoisierung der verbliebenen Juden in „Judenhäusern“ und eine immer stärker werdende Einschränkung ihrer Freizügigkeit. Schließlich wurde sogar die „Säkularisation“ der „jüdischen Totenhöfe“ verordnet, wobei die aufgrund der „starken Abwanderung“ überflüssig gewordenen Friedhöfe sobald als möglich einer „wirtschaftlichen Nutzung“ zugeführt werden sollten.
Der Weg in die Todeslager für die im Regierungsbezirk Kassel verbliebene jüdische Bevölkerung vollzog sich in drei zentral durchgeführten Deportationen. Die behördliche Vorbereitung und „reibungslose“ Durchführung auf der Ebene der Landkreise und Städte mit minutiösen Abfahrtszeiten der Zubringerzüge usw. kann weitgehend vollständig rekonstruiert werden:
· Die Deportation von Kassel nach Riga am 9. Dezember 1941 mit insgesamt 1034 Personen. Das Durchschnittsalter lag bei 39 Jahren, 100 Personen aus diesem Transport überlebten[15] (Abb. 44.1-2), darunter als einer der wenigen aus dem Kreis Marburg Karl Stern aus Neustadt. In einem Brief an den nach Südafrika emigrierten Irwin Höchster aus Roth, dessen Eltern und zwei Geschwister sich in dem Transport befanden und die nicht mit dem Leben davon kamen, schildert Stern 1946 die Situation bei der Ankunft in Riga. (Abb. 45, 46).
· Die Deportation von Kassel „nach dem Osten“ (Izbica/Sobibor) am 1. Juni 1942 mit 508 Personen.[16] Eine Fotoserie dokumentiert die Abfahrt des Teiltransportes von Hanau nach Kassel am 30. Mai 1942 (Abb. 50-52).
· Die Deportation von Kassel nach Theresienstadt am 7. September 1942 mit insgesamt 755 Personen (Abb. 53.1-3). Aus diesem letzten Transport wurden 207 Personen im September und Oktober 1942 weiter nach Treblinka verschleppt. Im Frühjahr 1943 überstellte man 87 und im Laufe des Jahres 1944 weitere 157 Insassen dieses Transportes nach Auschwitz. Nur 70 erlebten die Befreiung von Theresienstadt.[17] Gisela Spier aus Momberg gehörte zu den Überlebenden als einzige ihrer Familie.
Listen der Deportationen aus den Orten im Kreis Marburg sind vollständig erhalten. Die Landräte berichteten den „reibungslosen“ Verlauf der Abtransporte an die Gestapo in Kassel, und nach der letzten Deportation meldeten die Bürgermeister ihre Gemeinden als „judenfrei“.
[10] Die Tagebücher von Joseph Goebbels, hrsg. von E. Fröhlich, Teil I, Bd. 6, München 1998, S. 185
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