12. 180 Marburg 4827: Inschutzhaftnahme von Juden 1938-1939
Funkspruch der Staatspolizeistelle in Kassel an den Landrat in Marburg. Ausschreitungen sind nur dann zu verhindern, wenn "deutsches Leben und Eigentum" gefährdet sind, 10.November 1938
Die Akte 180 Marburg 4827 beinhaltet Dokumente aus der Korrespondenz des Landrats in Marburg von 1938-1939. Thematischer Schwerpunkt der Akte ist die sogenannte "Inschutzhaftnahme von Juden", eine euphemistische Begrifflichkeit für die repressive Praxis nach den Novemberpogromen gegenüber männlichen jüdischen Bürgern. Desweiteren beinhaltet die Akte Dokumente zu den Novemberpogromen von 1938, welche eine Chronologie der Ereignisse und die Reaktion der gleichgeschalteten Behörden offenlegen.
Die Chronologie der "Ausschreitungen" ist nicht unumstritten. Wolf-Arno Kropat vertritt die These, das die im nordhessischen Raum und speziell in Kassel bereits am Abend des 7. November stattfanden Ereignisse als Vorläufer weiterer Pogrome zu bewerten sind [1]. Ein Bezug zu dem Attenttat in Paris ist laut Kropat in dem einzigen schriftlichen Beleg zu dem Ereignis, einem Bericht aus der privatdienstlichen Korresponenz des Chefs der Reichskanzlei Lammers, nicht zu finden. Desweiteren wurden in drei kurhessischen Städten, darunter Marburg, die Vorbereitungen für die Pogrome am 9. und 10. November nachweislich so früh begonnen, dass sie den offiziellen, nach der Goebbelsrede aus München übermittelten Befehlen zuvorkamen [2].
Der erste Hinweis auf mögliche Ausschreitungen in dieser Akte ist die Notiz zu einem Gespräch des Landrats mit der Polizei vom 8. November 1938 [Dokument 2], aufgrund des Attentats in Paris solle in Marburg auf Ausschreitungen geachtet werden. Weitere Telegramme und Funksprüche vom Regierungspräsidenten und der Staatspolizei beschreiben die sich zuspitzende Lage und das Verhalten von "Partei" und Polizei [Dokument 3] [Dokument 4.3]. Die Polizei bekam Anweisungen, sich im Hintergrund zu halten und lediglich einzugreifen, falls "deutsches Leben und Eigentum" gefährdet sind [Dokument 4.2] , ansonsten seien alle Maßnahmen der Partei zu unterstützen. Mit "Partei" sind in diesem Fall zumeist SA-Truppen gemeint, welche bei der Durchführung des Pogroms, also bei Zerstörung von Gebäuden und Gewalttätigkeiten gegenüber Personen, tonangebend waren.
Die "Schutzhaft" der nach der Ausschreitungen festgenommenen Personen wurde durch bestimmte Richtlinien definiert, welche auch Kriterien zur Freilassung festgelegten [Dokument 8] . Dieser Katalog sah eine Freilassung für Alte, sehr Junge, mit "Frontkämpfereigenschaft" Versehene, Kranke oder Auswanderungswillige vor, viele Eingaben aus der Bevölkerung berufen sich auf eines dieser Entlassungskriterien [Dokument 11.0] [Dokument 19.0] .
Nach den "Ausschreitungen" folgt eine bürokratische Bestandsaufnahme aller Schäden und Vorgänge. Die darauf folgenden "Handlungsanweisungen" von Gestapo und Regierungspräsident sind programmatisch für den Umgang mit den Zerstörungen aber auch für das steigende Interesse an sogenannten "jüdischen Sachwerten" [Dokument 13] .
Bearbeitet von Jan Hendrik Höltje
[1] Kropat, Wolf-Arno, Reichskristallnacht, Wiesbaden 1997, S. 56
[2] ebd., S. 74
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