Einführung in die Dokumentation
Von Reinhard Neebe
Das Thema „Zwangsarbeit“ ist in den letzten Jahren zunehmend in einen Mittelpunkt des historischen Interesses gerückt. Während noch in den 90er Jahren von den Zwangsarbeitern in der NS-Zeit als den „Vergessenen Opfern“1 gesprochen werden konnte, so hat sich dieses Bild inzwischen grundlegend gewandelt. Beispielhaft hierfür steht nicht zuletzt das „Gesetz zur Errichtung einer Stiftung ,Erinnerung, Verantwortung und Zukunft’“, das im August 2000 in Kraft getretenen ist und auf dessen Grundlage ehemalige Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter nunmehr einen Rechtsanspruch auf persönliche Entschädigung geltend machen können.
Die wissenschaftliche Aufarbeitung des Themenkomplexes steht heute auf einem gefestigten Fundament: Aus der Fülle der Literatur sei hier nur verwiesen auf die Arbeiten von Ulrich Herbert2 oder die 2001 erschienene Gesamtdarstellung Mark Spoerers zur „Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz“. Zunehmend wichtig geworden sind aber auch regionalgeschichtliche Forschungsansätze und Dokumentationen. So ist das Schicksal der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter 1939-1945 im Darmstädter und südhessischen Bereich in den Darmstädter Archivschriften 13, 2002 quellennah aufgearbeitet, während erste Forschungsergebnisse zur Zwangsarbeit in Marburg als Sonderveröffentlichung im Auftrag der Marburger Stadtverordnetenversammlung im Jahre 2000 publiziert werden konnten.
Hier vorzustellen ist eine Online-Dokumentation zum Thema „Zwangsarbeit während der NS-Zeit in Hessen“, die parallel zur gleichnamigen Ausstellung des Staatsarchivs (Eröffnung 11. März 2004) erscheint. Die von DigAM - Digitales Archiv Marburg (Arbeitsstelle Archivpädagogik am Hessischen Staatsarchiv Marburg) erarbeitete virtuelle Präsentation will einen Einblick geben in die Komplexität, aber auch Widersprüchlichkeit des Systems der „Zwangsarbeit“ im Zweiten Weltkrieg. Sie hat nicht zum Ziel, eine abgerundete Gesamtdarstellung der Thematik „Zwangsarbeit“ vorzulegen, sondern will vielmehr Material ausbreiten, das unterschiedliche Dimensionen des Problems aufzuzeigen hilft und Anstöße gibt für eine selbständige Auseinandersetzung. Dem Ansatz des „entdeckenden Lernens“ entsprechend sind die Dokumente in ein neu entwickeltes Datenbanksystem integriert, das eine Abfrage auch quer zu der hier vorgenommenen Einordnung bzw. Strukturierung ermöglicht.
Ein besonderer inhaltlicher Schwerpunkt der Dokumentenauswahl aus dem Staatsarchiv Marburg liegt bei der Gruppe der polnischen Zivilarbeiter und –arbeiterinnen. Entsprechend der industrieschwachen Struktur des nordhessischen Raumes waren diese vornehmlich in der Landwirtschaft und in kleinbäuerlichen Betrieben beschäftigt, wenn auch dem Arbeitseinsatz in der DAG Allendorf (Lager Münchmühle) eine nicht unwichtige Bedeutung zukam.
Nachfolgende Aspektbereiche von „Zwangsarbeit“ im Nationalsozialismus 1939-1945 werden in der Dokumentation thematisiert:
- Rahmenvorgaben („Polen-Erlasse“ des Reichsführers SS Himmler vom März 1940 u.a.)
- Rolle der beteiligten Institutionen (Arbeitsamt, Landrat, Bürgermeister vor Ort, Arbeitgeber - Gestapo Kassel, Gendarmerie-Posten auf dem Lande, Regierungspräsident Kassel)
- Verteilung der Zivilarbeiter und Arbeitseinsatz
- Arbeitsverwaltung und Entlohnungssystem / Arbeitskarten
- Abstufungen zu Zivilarbeitern anderer Nationalität
- Kontroll- und Sanktionssysteme, „Arbeitsdisziplin“
- Diskriminierungssysteme (Polen-„Kennzeichen“)
- Unterbindung der Mobilität
- Teilnahme am Gottesdienst und religiöses Leben
- Sexuelle Repression
- Haftsachen und „Arbeitserziehungslager“
- Denunziationen
- Mitmenschen oder Untermenschen? Verhältnis der deutschen Bevölkerung zu den Zivilarbeitern.
- Veränderungen im Laufe des Krieges – Verschärfung seit 1942/43.
Literaturhinweise/Anmerkungen:
- Vgl. Pagenstecher, Cord, Vergessener Opfer – Zwangsarbeit im Nationalsozialismus auf öffentlichen und privaten Fotographien, in: Fotogeschichte, 17 H. 65, 1997, S. 59-72
- Herbert, Ulrich, Fremdarbeiter. Politik und Praxis des „Ausländer-Einsatzes“ in der Kriegswirtschaft des Drittens Reiches, 2. Aufl., Bonn 1999
- Spoerer, Mark, Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz. Ausländische Zivilarbeiter, Kriegsgefangene und Häftlinge im Deutschen Reich und im besetzten Europa 1939-1945. Stuttgart-München 2001
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