Die Jüdische Gemeinde Marburg blickt im Jahr 2017 auf die urkundliche Ersterwähnung einer Synagoge vor 700 Jahren zurück. Ein umfängliches und abwechslungsreiches Programm lädt Bürgerinnen und Bürger ein, ganz unterschiedliche Facetten des jüdischen Lebens über die Jahrhunderte und das heutige Gemeindeleben besser kennen zu lernen. Das Staatsarchiv Marburg, das Archiv der Philipps-Universität und das Stadtarchiv Marburg beteiligen sich hieran mit einer Ausstellung, die den Schwerpunkt auf die Stadt Marburg und ihre Umgebung im ausgehenden 18. und vor allem im 19. Jahrhundert legt, eine Zeit, in der Juden sukzessive die bürgerliche Gleichstellung zugestanden wurde. Die Ausstellung fragt danach, welche Aktionsräume sich für Juden eröffneten und wie sie diese besetzten, welche Widerstände sich ihnen entgegenstellten und inwiefern dieser Prozess als gelungen bezeichnet werden kann.
Der Raum Marburg bildet einen interessanten Mikrokosmos. In der einst landgräflichen Residenz lebten seit dem Mittelalter mehr oder weniger kontinuierlich Juden. Seit der Gründung der Universität 1527 war das Leben in dieser Stadt zudem akademisch geprägt. Darüber hinaus lebte im ländlichen Umland Marburgs seit dem 16. Jahrhundert vielerorts eine jüdische Dorfbevölkerung, welche sich religiös und wirtschaftlich auf die Stadt hin orientierte.
In sieben Abteilungen beleuchtet die Ausstellung zunächst die Zeit der Schutzjudenschaft und der prekären Lebensverhältnisse am Ende des Ancien Régimes, um anschließend den hessischen „Zickzack-Kurs“ der rechtlichen Gleichstellung nachzuvollziehen, welche erst nach dem Übergang an Preußen 1869 vollendet wurde. Sie vermittelt, wie schwierig es war, an der Marburger Philipps-Universität als Wissenschaftler jüdischen Glaubens zu reüssieren und eine Professur zu erlangen oder als studentische Verbindung akzeptiert zu werden. Gleichzeitig zeigt sie auf, dass sich in Marburg ein geschäftlich erfolgreiches jüdisches Bürgertum etablierte und auch die Landjuden einen wirtschaftlichen und sozialen Aufstieg erlebten. Am Ende der sozialen Leiter existierte allerdings weiterhin eine kleine Schicht von Juden in prekären Lebensverhältnissen, die vor allem in kurhessischer Zeit als „Nothändler“ rechtlich besonders diskriminiert blieb. Das gesamte 19. Jahrhundert war von wirtschaftlichen Krisen gekennzeichnet, die besonders die hessische Landbevölkerung trafen. Am Ende des Jahrhunderts machten scharfe antisemitische Agitatoren wie Otto Böckel die wirtschaftlich aufstrebenden Juden für die Misere verantwortlich und gaben dem sich im gesamten Reich ausbreitenden politischen Antisemitismus eine spezifisch hessische Ausprägung. Marburg mit seinem Umland war eine Hochburg dieses Antisemitismus‘, dem sich trotz aller Erfolge engagierte Bürger aus dem Verein zur Abwehr des Antisemitismus publizistisch und in Vorträgen sowie auf juristischem Wege auch von Verleumdungen Böckels betroffene Juden entgegenstellten. Somit ist die Emanzipation der Juden aus dem lokalen Blickwinkel betrachtet wechselvoll und ambivalent. Das alltägliche Leben der Juden um die Jahrhundertwende, namentlich ihre religiösen Praktiken, Geschäftstätigkeiten, ihr Bildungsstreben und gesellschaftliches Engagement, veranschaulichen insbesondere Objekte aus öffentlichen und privaten Sammlungen.
Die ausgestellten und hier abgebildeten Dokumente stammen vornehmlich aus den beteiligten Archiven, Objekte in nicht unerheblichem Umfang liehen die Religionskundliche Sammlung der Philipps-Universität Marburg und der Arbeitskreis Landsynagoge Roth aus, weitere Einzelstücke die Martin-Luther-Schule in Marburg, die Universitätsbibliothek Marburg, Das Deutsche Dokumentationszentrum für Kunstgeschichte – Bildarchiv Foto Marburg, das Landesarchiv Sachsen-Anhalt in Magdeburg, Annemarie und Werner Schlag aus Fronhausen, Anna Koch und Konrad Pfeffer.
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