
Auf eisernen Schienen, so schnell wie der Blitz – Zur Geschichte der Eisenbahnen in Hessen
Von Karl MurkAuf eisernen Schienen, so schnell wie der Blitz
Dampfwagen und DampfkutschenMit dem schwarzbewimpelten Rauchfangmast,
Prasselnd vorüberrutschen.
So beschreibt Heinrich Heine in einem späten Gedicht von 1857 einen vorbeifahrenden Zug, und so lautet das Motto dieser virtuellen Präsentation, die vom 29. März bis 22. September 2006 als Ausstellung im Vestibül des Staatsarchivs Marburg gezeigt wurde. Dabei werden längst nicht alle Aspekte der breitgefächerten Thematik berücksichtigt. Zeitlich beschränken wir uns im wesentlichen auf die Vorgeschichte und die Anfänge des neuen Transport- und Verkehrsmittels. Geographisch steht der Marburger Archivsprengel, also Nord-, Mittel- und Osthessen, im Vordergrund. Aufgrund der historischen Entwicklung lässt sich aber auch die Eisenbahngeschichte im Großraum Frankfurt/Hanau mit Archivalien des Staatsarchivs Marburg relativ gut belegen. Die ehemals großherzoglich hessischen Lande südlich des Mains und der nassauische Winkel werden durch einige Exponate zumindest gestreift.
In dem eingangs zitierten Heine-Gedicht räsonieren ein Pferd und ein Esel angesichts des vorüberrutschenden Zuges über die Folgen des technischen Fortschritts. Unter den Exponaten, die den Kritikern und Befürwortern des Bahnbaus gewidmet sind, befindet sich ein Witzblatt, auf dem sich ein Ochse und ein Bär einem fahrenden Zug entgegenstemmen. [Ausstellungsraum 1: Befürworter und Kritiker]. Die Karikatur ist eine Anspielung auf die Kritiker der neuen Technik in der kurhessischen Ständeversammlung. Dort hatten die Abgeordneten v. Ochs und Bähr im Spätjahr 1843 gegen den Eisenbahnbau auf Staatskosten protestiert und in ihren Voten leise Zweifel am Nutzen der neuen Technik anklingen lassen. Bähr hatte sich gefragt, ob Eisenbahnen mehr ein nothwendiges Lebensbedürfnis, oder mehr ein Gegenstand des Luxus wären, und ob es gut wäre, die Menschen so aneinander zu rücken. Menschen, so mutmaßte er, wollten [...] dabei nicht recht gedeihen, gleich den Pflanzen, welche zu dicht stehen, und die zusammengedrängten Nationen brächten einander mehr Unglück als Glück, mehr Laster als Tugenden, mehr Knechtschaft als wahre Freiheit. Ein namhafter, weit über die Grenzen des Hessenlandes hinaus bekannter Kritiker des schienengebundenen Eisenbahnverkehrs war auch der Nationalökonom und Historiker Michael Alexander Lips, von 1821 bis 1833 Lehrstuhlinhaber an der Philipps-Universität, dessen Schrift über „Die Unanwendbarkeit der englischen Eisenbahnen auf Deutschland“ 1833 in Marburg erschien. Die Philipps-Universität – ein Hort für Fortschrittsgegner? Mitnichten. Lips propagierte den Einsatz von Dampfmobilen auf gut ausgebauten und festgefügten Chausseen und ist als Pionier des modernen Straßen- und Individualverkehrs eher ein Beispiel dafür, dass man sich in Marburg damals wie heute nicht nur intensiv dem Tagesgeschäft widmete, sondern auch originelle Problemlösungen für die Zukunft konzipierte.
Während feinnervige Zeitgenossen wie Heine dem neuen Transport- und Verkehrsmittel mit zwiespältigen Gefühlen begegneten, berauschte sich die fortschrittseuphorische Mehrheit an nüchternen Zahlen, an Handelsstatistiken, Transportzeiten und -kosten, an Produktionsziffern und Warenmengen, an Bodenwertsteigerungen und empor schnellenden Aktienkursen. Im Hessenland organisierten sich die Fürsprecher des Eisenbahnbaus seit den frühen 1830er Jahren in Vereinen, wie dem 1832 in Kassel gegründeten „Aktienverein zur Errichtung einer Eisenbahn von den Hansestädten über Kassel nach Süddeutschland“ oder in dem im darauffolgenden Jahr gegründeten „Bund der Völker für Gewerbe und Handel“. Durch Versammlungen, Petitionen und Publikationen, von denen wir eine kleine Auswahl präsentieren, suchten sie die politischen Entscheidungsträger und die breite Öffentlichkeit von den Vorteilen der neuen Technik zu überzeugen. Immer wieder wiesen sie die mitunter zögerlichen Obrigkeiten darauf hin, dass das im Herzen Deutschlands gelegene Hessenland als Eisenbahnknoten und damit als Zentralpunkt des Handels geradezu prädestiniert sei. Verschlafe man die Entwicklung, so der kurhessische Oberberginspektor Justus Wilhelm Schäffer in einer ausliegenden Broschüre, werde das Land einem faulen öden Sumpfe gleich, den selten ein Fremder besucht.
Wegweisend im wahrsten Sinne des Wortes ist auch der zweite Themenkomplex unserer Ausstellung: die Finanzierung des Bahnbaus und die Streckenplanung. [Ausstellungsraum 2: Planung und Finanzierung] Der Geldbedarf sprengte alle bisher gewohnten Dimensionen der Finanzierung wirtschaftlicher Unternehmungen. Zur Lösung dieses Problems boten sich zwei Varianten an: die Kapitalbeschaffung mit Hilfe von privaten Aktiengesellschaften oder der Eisenbahnbau auf Staatskosten auf dem Anleiheweg. Beide Wege wurden in Hessen beschritten. Davon künden Aktionärslisten, eine Emissionsankündigung der Frankfurter Bankhäuser du Fay, Bethmann und Schmidt für die Friedrich-Wilhelms-Nordbahn und ein Prämienschein über einen Kapitalanteil an der kurhessischen Staatsanleihe beim Bankhaus Rothschild für den Bau der Main-Weser-Bahn. Eisenbahnaktien waren wegen der hohen Renditeerwartungen außerordentlich begehrt, wurden in der Regel innerhalb weniger Tage problemlos platziert und waren oft mehrfach überzeichnet. Die fieberhafte Bereitschaft, in das neue Verkehrsmittel zu investieren, war nicht nur eine Voraussetzung für die Entstehung des Eisenbahnnetzes, sondern auch für die Bildung eines modernen Kapitalmarktes. Die mit Abstand größte Aktionärsgruppe stellten übrigens nahezu überall die Staatsdiener, mit Abstand folgten Kaufleute, Fabrikanten und Bankiers. Blickt man dagegen auf die Zeichnungssummen, so zeichneten die Beamten ihren Gehältern entsprechend meist niedrige Beträge, Fabrikanten, Kaufleute und Bankiers dagegen überdurchschnittlich hohe Summen.
Die hessischen Staaten hielten sich beim Bahnbau anfangs merklich zurück. Staatsbahnen wurden in der Regel erst in Erwägung gezogen, wenn die privaten Gesellschaften in Finanzierungsschwierigkeiten gerieten und staatliche Unterstützung einforderten. Von privaten Aktiengesellschaften wurden die 1839 eröffnete „Taunuseisenbahn“ zwischen Frankfurt, Mainz und Wiesbaden, das erste Bahnprojekt in Hessen überhaupt, und die im Revolutionsjahr 1848 eröffnete „Frankfurt-Hanauer Bahn“ errichtet. Bei der „Großherzoglich-Hessischen Ludwigsbahn“ zwischen Mainz und Worms und der „Friedrich-Wilhelms-Nordbahn“ zwischen Kassel und der thüringischen Landesgrenze sah sich der Staat schon bald zu Stützungsmaßnahmen genötigt. Von vornherein und ausschließlich auf Staatskosten wurden in den 1840er und 50er Jahren die Hauptlinien, wie z.B. die Main-Neckar-Bahn zwischen Frankfurt und Heidelberg und das Gemeinschaftsprojekt der Main-Weser-Bahn zwischen Frankfurt und Kassel, errichtet. Die Bürokratie betraute ausländische Experten, wie den englischen Ingenieur Robert Stephenson, mit Geländeuntersuchungen und entschied oft erst nach langjährigen und z.T. heftig geführten Debatten in den Landtagen und der Öffentlichkeit über die Streckenführung. In Kurhessen stritt man z.B. ausgiebig darüber, ob die Eisenbahn zwischen Kassel und Frankfurt über Fulda oder über Marburg gebaut werden sollte.
Nachdem die grundsätzlichen Entscheidungen über Finanzierung und Linienführung gefällt waren, konnten die eigentlichen Baumaßnahmen beginnen. Bahnbauten haben der Landschaft einen unverwechselbaren Stempel aufgeprägt. [Ausstellungsraum 3: Streckenbau und Landschaftsveränderung] Brücken und Tunnel stellten höchste Anforderungen an Ingenieure und Arbeiter; Bahndämme und Schienenstrecken durchschnitten Wiesen und Äcker. Die Enteignung bzw. der Ankauf von Grund und Boden und die Entschädigung der Besitzer für Wertminderungen der an die Bahnlinie grenzenden Grundstücke schufen ein endloses Feld für Rechtsstreitigkeiten. Nicht nur das Land und seine Bewohner, auch die Städte wurden nachhaltig von der Eisenbahn tangiert. Bahnhöfe mit ihren repräsentativen Empfangsgebäuden und den in Eisen und Glas ausgeführten eigentlichen Bahnhallen waren architektonische Novitäten (halb Palast, halb Fabrik). In diesen „Kathedralen der Moderne“ pulsierte das Leben, wurden technischer Fortschritt und wachsende Mobilität sicht-, hör- und fühlbar. [Ausstellungsraum 4: Bahnhöfe: Planung, Bau, Betrieb] Eindrücke vom Streckenbau, von der Landschaftsveränderung und den Bahnhöfen vermitteln Lithographien, Zeichnungen und Pläne.
Thematisiert wird auch die Lebens- und Arbeitswelt der Eisenbahnbauarbeiter. [Ausstellungsraum 5: Arbeitswelt Eisenbahnbau] Anhand von Lohnlisten, Verpflegungsplänen, Arbeitsordnungen und Verhaltensregulativen ist der harte und streng reglementierte Arbeitsalltag an der Strecke deutlich ablesbar. Das Gros der Bauarbeiter rekrutierte sich aus der Masse der Beschäftigungslosen und Unterbeschäftigten. Pauperisierte Kleinbauern, Landarbeiter, Tagelöhner, Handwerksgesellen und kleine Handwerksmeister aus allen Teilen Deutschlands kamen beim Bau der hessischen Eisenbahnen zum Einsatz. Die Legitimationspapiere eines aus Schlesien stammenden Vorarbeiters, der am Bau der Friedrich-Wilhelms-Nordbahn beteiligt war, zeugen von der außerordentlichen Mobilität der Arbeitskräfte. Auf anrührende Weise schildert eine Frau aus der Nähe von Hünfeld im Januar 1848 die Gründe, die ihren Mann dazu bewogen, seine Familie zu verlassen und sich einer Baukolonne anzuschließen. Um weil die Hungersnoth zu groß war, so radebrecht die Notleidende, und er den Jammer seiner fast nackende vier Kinder nicht mehr sehen konnte und seine Verdienste als Tagelöhner sehr gering und nicht für uns anzuschaffen, dass wir uns einmal sättigen konnten, viel weniger dass er auch noch Hausmiethe zahlen sollte.
Das immer dichter werdende Schienennetz beförderte und beschleunigte den wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Austausch zwischen den Regionen und Städten. Davon profitierten Industrielle, Händler und Gewerbetreibende ebenso wie Arbeitssuchende, Auswanderer und Touristen, nicht zuletzt natürlich auch Militärs und Monarchen. [Ausstellungsraum 6: Personen- und Güterverkehr] Zu diesem Thema präsentieren wir u.a. Aufstellungen über den Personen- und Güterverkehr auf der Main-Weser-Bahn, Güter- und Gepäcktarife, ein Handbüchlein für Bahnreisende, Uniformierungsreglements für das Zugpersonal und nicht zuletzt auch Fahrpläne für die Extrazüge der gekrönten Häupter, auf denen der geplante Frühstücksaufenthalt des Kaisers von Russland in Gießen ebenso vermerkt ist wie der dringende Wunsch von Queen Victoria, dass die Lokomotivführer auf der Strecke zwischen Köln und Gießen den Gebrauch der Dampfpfeife auf die wirklich nötigen Fälle zu beschränken hätten.
Damit sind wir beim letzten Thema, dem Lokomotiv- und Triebwagenbau. [Ausstellungsraum 7: Lokomotiv- Waggon- und Gleisbau] Seit Mitte der 1840er Jahre wurden am Firmensitz des unangefochtenen Branchenführers, der Firma Henschel & Sohn, in Kassel Dampflokomotiven gebaut. Ein Modell der am 29. Juli 1848 an die Friedrich-Wilhelms-Nordbahn gelieferten ersten Henschel-Lokomotive, des „Drachen“, und eine Ansicht des Firmengeländes aus den 1840er Jahren wurden uns freundlicherweise vom Stadtmuseum Kassel zur Verfügung gestellt. Der Einstieg in die Fabrikation erwies sich für das Unternehmen angesichts der starken ausländischen Konkurrenz zunächst als äußerst schwierig. Bei den ersten Lokomotivbestellungen erhielten englische Firmen, wie z.B. die Firma Longridge & Co. aus Newcastle, deren Lokomotive gleichfalls als Zeichnung zu bewundern ist, den Zuschlag, während Henschel leer ausging. Mit welcher Intensität im Hessenland über technische Verbesserungen der Eisenbahnen diskutiert wurde, zeigt die Vielzahl einschlägiger Publikationen, von denen wir eine kleine Auswahl präsentieren. Unter den Autoren befinden sich neben dem Eisenbahnpionier und Firmengründer Carl Anton Henschel aus Kassel u.a. auch ein Wasserbaumeister und ein Landgerichtsrat.
Anfragen zu Reproduktionen in hoher Auflösung und druckfähige Vorlagen erhalten Sie von der unter Bestand/Sign. genannten Einrichtung.