Sinti und Roma in Hessen
Ausgrenzung und Verfolgung einer Minderheit vom 16. Jahrhundert bis nach dem Zweiten Weltkrieg
Udo Engbring-Romang
Im September 1407 wurden zum ersten Mal Sinti im deutschen Sprachraum erwähnt. Ihr Auftreten wird im Amtsbuch der Stadt Hildesheim notiert. Wenige Zeit später sind sie urkundlich auch im heutigen hessischen Raum, in Frankfurt am Main, genannt. Nur wenige Jahrzehnte später beginnt die Ausgrenzung, Diskriminierung, Vertreibung und Verfolgung dieser Gruppe in Europa, das das sie als ihre Heimat betrachten.
Die Ausstellung
In dieser Ausstellung werden Dokumente zur Verfolgungsgeschichte der Sinti und Roma in Hessen bzw. im nord- mittel- und osthessischen Raum präsentiert, die sich weitestgehend im Hessischen Staatsarchiv Marburg befinden. Exemplarisch kann für diese Region die Verfolgungsgeschichte einer ethnischen Minderheit über Jahrhunderte nachgezeichnet werden.
Die jeweiligen Einleitungen versuchen den Zusammenhang mit der deutschen bzw. europäischen Geschichte skizzenhaft herzustellen. Für die NS-Zeit, besonders für den Völkermord, werden die Quellen aus dem Regierungsbezirk Kassel ergänzt durch einige Interviews, die der Autor zwischen 1995 und 2002 geführt hat bzw. an denen er selbst beteiligt gewesen ist. Die Originalaufnahmen (Cassetten, Filme etc.) befinden sich in seinem Besitz bzw. die Transkriptionen beim Verband Deutscher Sinti und Roma, Landesverband Hessen, in Darmstadt.
Unterstützt wurden die Recherchen von der Hessischen Staatskanzlei, dem Hessischen Kultusministerium und vom Verband Deutscher Sinti und Roma, Landesverband Hessen.
Zur Begrifflichkeit:
Antiziganismus: Vorurteile, Abwehrhaltung und Politik der Mehrheitsbevölkerungen gegen Sinti und Roma, die sich über "Zigeunerbilder" äußert
Das Wissen über das Leben der Sinti und Roma in der Vergangenheit ist sehr begrenzt, da es fast keine eigenen, selbst verfassten Schriftquellen gibt. Fast alle Informationen, die es heute gibt, wurden von Nichtsinti und -Roma gesammelt und weiter gegeben.
„Zigeuner“
„Zigeuner“ ist eine Fremdbezeichnung, die seit dem 15. Jahrhundert im deutschen Sprachraum für Sinti und Roma benutzt wird. Der Begriff leitet sich wahrscheinlich von Atingoi (gr. für Unberührbare) ab. Er wurde im slawischen und ungarischen Sprachraum ähnlich eingesetzt. In England gibt es den Begriff gipsy, in Spanien gitano. Die Wörter leiten sich von Ägypten ab. Auch in der französischen Sprache werden die Begriffe "Ägypter" und "Zigeuner", dazu "Böhmen" synonym gebraucht.
Der Zigeunerbegriff ist mit Bildern verbunden, die mit vielen negativen Assoziationen verbunden sind, die dann wiederum auf die Sinti und Roma übertragen werden. Der "Zigeuner" ist damit eine Konstruktion. Viele Menschen der deutschen bzw. der europäischen Mehrheitsbevölkerungen bedienen sich unbewusst oder auch bewusst des Begriffes, was von Sinti und Roma als Respektlosigkeit oder Beleidigung empfunden werden kann.
Antiziganismus und „Zigeuner“-Bilder
Antiziganismus ist ganz allgemein die Abwehrhaltung der Mehrheitsbevölkerung gegen Sinti und Roma; er reicht von Vorurteilen und Ressentiments bis zur massiven Verfolgung und endet im Völkermord. Er beinhaltet Zuschreibungen für Sinti und Roma, die auf Zigeunerbildern aufbauen, die diese Menschen als „fremd", „müßiggängerisch", „musikalisch“ und „frei", „primitiv“, „archaisch“, „kulturlos“ oder „kriminell“, „nomadisch’“ und „modernisierungsresistent“ kennzeichnet. Die Bilder, antiziganistisches Verhalten und antiziganistische Politik begleiteten oder begründeten, zeichneten die Sinti zu Beginn der Neuzeit als „Heiden“ (=Fremde) oder „Auskundschafter“ (=Spione für die Türken) dargestellt, so wurden sie zunächst zu den „Vagabunden“ gezählt, zu den "Nichtsesshaften" Aus den Sinti und Roma wurden die "Zigeuner". Schließlich. nachdem sie ein oder zwei Jahrhunderte in Mitteleuropa gelebt hatten, entstand das Bild der „kriminellen Zigeunern”. Dabei ist es nicht von Bedeutung, ob einzelne Sinti mit dem Gesetz in Konflikt geraten waren. Aber die Taten oder die vermeintlichen Taten Einzelner wurden dazu genutzt, um damit diese Minderheit an sich zu kriminalisieren. Nach dem volkstümlichen Motto „Kennt man einen, kennt man alle” wurde die Merkmalsbeschreibung um einen weiteren Aspekt erweitert.
Im Zeitalter einer beginnenden Charakterisierung der Völker und Volksgruppen hatte dies die Wirkung, dass den „Zigeunern” nun neben dem angeblichen Wandertrieb auch die Kriminalität als Charakterzug zugeschrieben wurde. Klischees, die auch im 21. Jahrhundert noch Bestand haben.
Einführende Literatur für Hessen
Ulrich F. Opfermann:«Seye kein Ziegeuner, sondern kayserlicher Cornet.» Berlin 2007
Udo Engbring-Romang: Die Verfolgung der Sinti und Roma in Hessen zwischen 1870 und 1950. Frankfurt 2001
dazu die Reihe:
«Hornhaut auf der Seele» Bände 1-7. Dokumentationen zur Verfolgung der Sinti und Roma in hessischen Gemeinden. Hrsg. v. Adam Strauß, mit Dokumentation zu Wiesbaden, Darmstadt, Fulda, Frankfurt, Marburg, Bad Hersfeld und Hanau. 1995ff.
Udo Engbring-Romang: Antiziganismus. Begriff, Idee, Funktion und Umsetzung. (2006 auf dem Bildungsserver Hessen)
Zeitzeugenberichte zur NS-Verfolgung
Flucht – Internierung – Deportation – Vernichtung. Hessische Sinti und Roma berichten über ihre Verfolgung während des Nationalsozialismus. Bearbeitet von Josef Behringer. Herausgegeben von Adam Strauß. Seeheim 2006 (inkl. CD-ROM mit Ausschnitten aus Interviews)
Weitere Zeitzeugenberichte sind vom Verband Deutscher Sinti und Roma, LV Hessen, auf DVD publiziert: Anna und Michael Böhmer (Interview 2001, Produktion 2009), Dina Franz (Interview 2001, Produktion 2010) Bezugsbedingungen: s. u.
Für Unterrichtszwecke
«Hornhaut auf der Seele» Die Geschichte zur Verfolgung der Sinti und Roma in Hessen. 65 Ausstellungstafeln im Format 70x100 cm. Erhältlich bei Verband Deutscher Sinti und Roma, Landesverband Hessen, Annastr.44, 64285 Darmstadt. http://www.sinti-roma-hessen.de Hier sind auch die Verleihbedingungen zu erfahren.
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