Einführung
Noch stärker als im Kaiserreich, als Hessen-Nassau eine der Provinzen des Königreichs Preußen war [Dokument 1],
ist die Geschichte des nördlichen Hessen in der Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus nicht von der allgemeinen Entwicklung im Deutschen Reich zu trennen. Das Leid der Menschen durch Krieg, Gefangenschaft [Dokument 2], mangelnde Nahrung und fehlende Heizung [Dokument 3] bestimmte den Alltag im Winter 1918/19. Das ist sicherlich auch einer der Gründe, weshalb die revolutionären Aktionen der Arbeiter- und Soldatenräte im November 1918 in den meisten hessischen Städten relativ undramatisch verliefen [Dokument 5, 6].
In den ersten Jahren der Weimarer Republik trat zu dem Mangel an Nahrung und Wohnraum noch eine allgemeine Arbeitslosigkeit, die in den Industriezentren durch die Umstellung von der Kriegswirtschaft zur Friedensproduktion und zusätzlich durch großen Rohstoffmangel bedingt war (Demonstrationen der Erwerbslosen). Zurückgekehrte Kriegsteilnehmer und die durch die Verringerung des Heeres entlassenen Berufssoldaten strömten auf einen Arbeitsmarkt, der den Problemen nicht gewachsen war. Die galoppierende Geldentwertung mit dem Verlust aller Ersparnisse wirkte sich besonders stark in den Städten aus, die wie z.B. Marburg arm an Industrie waren und deren Bewohner zu einem großen Teil von Kapitalerträgen, von Renten und Pensionen lebten. Die antirepublikanische Tendenz dieser Bevölkerungsgruppen wurde in den Anfangsjahren von den bürgerlichen Rechtsparteien aufgefangen.
Der Kapp-Putsch 1920 [Dokument 8] fand auch im nördlichen Hessen ein schnelles Ende, nur in Kassel kam es am 18. März 1920 zu gewalttätigen Tumulten. Spektakulär hingegen waren zwei Ereignisse, die Reaktion auf den Rathenau-Mord [Gesetz vom 11.8.1922] und die Niederschlagung republikfeindlicher Revolten: Ab 1919 erschienen mit Erlaubnis der Regierung Anzeigen zur Freiwilligenwerbung im gesamten nördlichen Hessen. Als die Reichsregierung ehemalige Kriegsteilnehmer zur Niederschlagung republikfeindlicher Revolten in Thüringen aufrief und ein Korps von Freischärlern, das überwiegend aus Marburger Studenten bestand, 15 Arbeiter "auf der Flucht" erschoß, war die politische Öffentlichkeit von links bis rechts erregt [Dokument 9].
Trotz dieser Sorgen um die nackte Existenz [Dokument 10, 14, 15, 16] und der allgemeinen Unzufriedenheit mit der Politik in Berlin wurden einige Gesetze in weiten Kreisen als nötig und als wesentliche Verbesserung empfunden, so die Gesetze über die Jugendpflege und Jugendwohlfahrt und die, die sich mit der Erziehung und Bildung der Jugend befaßten [Dokument 12, 13]. Als Folge lassen sich Reformbemühungen auf vielen Gebieten feststellen: Jugendbewegung, Reformschulen, Ausbildung der Mädchen, Berufsschulen auch auf dem Land, Berufstätigkeit der Frauen usw. Auch auf dem Gebiet der Kultur versuchten die Kommunen neue Wege zu gehen und theaterfremde Gruppen durch Aufführungen unter freiem Himmel zu erreichen [Dokument 17, 18].
Während die außenpolitische Isolierung langsam überwunden werden konnte (Rapallo, Locarno), verstärkte sich zu Anfang der Dreißiger Jahre nach der Weltwirtschaftskrise der Kampf von rechts und links gegen die ungeliebte Republik, und linke und rechte Gruppierungen lieferten sich Schlachten auf der Straße und im Saal [Dokument 19, 20]. Die Gemeinden organisierten Arbeitseinsätze für gemeinnützige Projekte, um einer Radikalisierung vorzubeugen. Die Wahlen zum Reichstag zeigten das Anwachsen der NSDAP im nördlichen Hessen besonders kraß, da in dieser Region der Antisemitismus durch die sogenannte Böckel-Bewegung schon eine Tradition hatte [Dokument 21, 22].
Die Gleichschaltung nach der "Machtergreifung" der Nationalsozialisten erfaßte alle Institutionen und Gruppierungen [Dokument 23, 24, 25, 26, 27]. Wer sich zu widersetzen versuchte, bekam die Macht des Staates zu spüren. Die Beseitigung jeder Opposition läßt sich in den Rathäusern genauso nachweisen, wie bei der Schließung von Zeitungen und den Häusern der Gewerkschaften [Dokument 28, 29, 30, 33]. Einige Institutionen - so die evangelische Kirche - wurden besonderer Kontrolle unterworfen; das traf mutige Pfarrer in Stadt und Land, Studenten der Theologie wie deren Professoren [Dokument 36, 37, 38, 39].
Die Bücherverbrennungen am 10. Mai 1933 (Kassel 19. Mai 1933) zeigten, daß sich besonders die studentische Jugend von der Ideologie hatte erfassen lassen [Dokument 31]. Jeder Widerstand wurde unterdrückt, selbst die Organisationen im Untergrund waren ab 1934/35 nahezu zerschlagen. Ein Ereignis, das auch in der deutschsprachigen Presse des Auslands als Zeichen einer Unzufriedenheit der konservativen Kreise interpretiert wurde, stellte der Festvortrag des Vizekanzlers von Papen dar, den er im Juni 1934 vor dem Marburger Universitätsbund hielt [Dokument 34, 35]. Der Verfasser dieser kritischen Auseinandersetzung mit der NS-Ideologie, Edgar J. Jung, wurde am 30. Juni 1934 in Oranienburg ermordet.
Wie stark der nationalsozialistische Staat die Heranwachsenden zu beeinflussen verstand, läßt sich nicht nur anhand der Jugendorganisation der Hitlerjugend demonstrieren, sondern auch durch die Einführung des Pflichtjahrs oder durch die Veränderung der Lehrpläne der Schulfächer und die Kontrolle der Lehrer [Dokument 43, 44, 45, 46, 47, 48]. Ebenso aufmerksam verfolgte die Parteiführung das Verhalten der Studenten und Professoren [Dokument 41-42].
Die Rassenlehre [Dokument 49], die mittels der Lehrbücher als pseudowissenschaftlicher Lehrstoff verbreitet wurde, wurde in den psychiatrischen Krankenhäusern unseres Raums genauso in die Tat umgesetzt [Dokument 59], wie alle Gemeinden im nördlichen Hessen die zahlreichen Gesetze gegen die jüdischen Mitbürger befolgten: vom Gebot, nicht in jüdischen Geschäften zu kaufen [Dokument 50, 51, 52], keine jüdischen Ärzte und Rechtsanwälte zu konsultieren, über die Schließung der jüdischen Heime und Schulen, den von Berlin aus organisierten Synagogenbränden [Dokument 53, 54, 55, 56] bis zur Deportation [Dokument 57]. Menschen aus eroberten Gebieten wurden als Fremdarbeiter in der Rüstungsindustrie ausgebeutet [Dokument 63, 64].
Obgleich die Kontrolle der Bevölkerung [Dokument 60, 61] und die Beeinflussung durch gelenkte Zeitungen und durch das Rundfunk-Einheitsprogramm der "Volksempfänger" nahezu total war [Dokument 62], existierte bei den Behörden die ständige Angst, daß die Bevölkerung ungeschminkte Informationen aus dem Ausland erhalten könnte. Die Suche nach abgeworfenen Flugblättern beschäftigte im Kriege die unteren Behörden täglich [Dokument 65, 66].
In den letzten Kriegsjahren versuchten die NS-Organisationen, durch Kundgebungen und Zeitungsberichte eine Durchhaltestimmung zu erzeugen [Dokument 67]. Doch die vielen Kriegstoten, die Luftangriffe (besonders verheerend war ein Angriff auf Kassel am 22. 10. 1943; [Dokument 68, 69, 70], die Flüchtlinge und die Probleme des Alltags sprachen eine andere Sprache, so daß die amerikanischen Soldaten, die Ende März 1945 das nördliche Hessen besetzten, auf keinen Widerstand der Bevölkerung stießen [Dokument 71].
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