Einführung in die Ausstellung
Die nationalsozialistische Diktatur hatte in einer politischen und moralischen Katastrophe geendet. Die Besetzung Deutschlands durch die Alliierten erlebten die Gegner und Opfer des NS-Regimes in Konzentrationslagern und Zuchthäusern als Tag der Befreiung. Bei der Masse der Bevölkerung hingegen mischte sich in die Erleichterung über das Ende des Krieges die bange Frage nach der Zukunft unter der Herrschaft der Besatzungsmächte. Das Ende des Reiches, die Aufteilung Deutschlands in Besatzungszonen und der drohende Zusammenbruch des Versorgungssystems ließen die Zukunft mehr als ungewiß erscheinen.
Hauptziel der alliierten Mächte nach dem Ende des Krieges war es zu verhindern, daß Deutschland jemals wieder eine Bedrohung für den Weltfrieden werden könnte. Nach der bedingungslosen Kapitulation sollte zunächst Deutschland entmilitarisiert, die NSDAP und ihre Organisationen verboten und die Kriegsverbrecher bestraft werden. Verwaltung und Gesellschaft sollten entnazifiziert und die deutsche Rüstungsindustrie demontiert werden. Durch Lieferung von Maschinen und industriellen Gütern sollte Deutschland einen Beitrag zum Wiederaufbau der von deutschen Truppen zerstörten Regionen Europas leisten.
Über die weitere Behandlung der Deutschen hatten die Alliierten unterschiedliche Vorstellungen. Mit einem anspruchsvollen demokratischen Programm traten die Amerikaner an, zu deren Besatzungszone Hessen gehörte. Sie wollten die Deutschen durch „reeducation" zur Demokratie erziehen. Für viele Amerikaner - traditionell eher deutschfreundlich - bedeutete damals „the German mind" die Neigung zu autoritären Verhaltensweisen und gefährlichen Aggressionen, wie sie in der Auslösung zweier Weltkriege und in der Organisation millionenfacher Morde an Juden, Russen und Polen in den nationalsozialistischen Vernichtungslagern zum Ausdruck gekommen war. Daher sollte dafür gesorgt werden, daß in Deutschland wieder demokratische Institutionen entstünden und sich der Charakter insbesondere der deutschen Jugend durch eine Erziehung in demokratischem und humanem Geist wandele.
Doch als die Amerikaner Hessen besetzten, lag noch keine wirkliche reeducation-Konzeption vor. In den USA war im Herbst 1944 ein grundsätzlicher Konflikt über die künftige Besatzungspolitik ausgebrochen. Ursprünglich war das amerikanische Kriegsministerium davon ausgegangen, daß nach der Zerschlagung der nationalsozialistischen Parteiorganisationen und Verwaltungsstrukturen eine möglichst baldige Normalisierung des öffentlichen Lebens und der Wirtschaft anzustreben sei. Wenn erforderlich, wollte die Militärregierung selbst die Wiederaufnahme der Industrieproduktion fördern, um die Versorgung der Bevölkerung zu sichern. Die Bildung demokratischer Institutionen wie z. B. der Gewerkschaften sollte baldmöglichst zugelassen werden. Deutsche Emigranten bestärkten die Amerikaner in der Zuversicht, daß sich wieder ein demokratisches Leben wie in der Zeit der Weimarer Republik entwickeln werde, sobald das NS-Regime beseitigt sei.
Gegen diesen pragmatischen Ansatz erhob aber im Herbst 1944 vor allem der amerikanische Finanzminister Morgenthau energisch Einspruch. Er befürchtete, daß ein rasches Wiedererstarken Deutschlands, besonders auf dem industriellen Sektor, die europäischen Nachbarn in eine erneute wirtschaftliche und politische Abhängigkeit treiben würde, und forderte Maßnahmen von außerordentlicher Härte, um dieser Gefahr vorzubeugen. Nicht nur die Schwerindustrie sollte vollständig zerschlagen, sondern die sonstige Industrieproduktion so weit reduziert werden, daß Deutschland auf lange Zeit daran gehindert wäre, wieder ein bedeutendes Industrieland zu werden.
Zwar wurde der von Morgenthau entwickelte Plan nie offizielles Dokument der amerikanischen Außenpolitik. Aber die von ihm ausgelöste Diskussion beeinflußte zunächst nachhaltig die amerikanische Besatzungspolitik in Deutschland.
In der kurz nach der Besetzung Hessens im April 1945 erlassenen Direktive JCS 1067 hieß es: „Deutschland wird nicht besetzt zum Zwecke seiner Befreiung, sondern als ein besiegter Feindstaat". Hauptziel sei neben der Entnazifizierung und Entmilitarisierung auch die industrielle Abrüstung Deutschlands. Die amerikanischen Befehlshaber wurden angewiesen, „die Verbrüderung mit deutschen Beamten und der Bevölkerung streng zu unterbinden". Den Neuaufbau des politischen Lebens auf demokratischer Grundlage vertagte man auf später.
Diese Politik wurde von der öffentlichen Meinung in den USA gestützt, die über die bei der Besetzung Deutschlands entdeckten Greueltaten schockiert war. Die amerikanischen Militärs, ebenfalls zutiefst betroffen, blieben gleichwohl nicht unberührt von der Notlage der deutschen Zivilbevölkerung, die vor riesigen wirtschaftlichen und sozialen Problemen stand und schlicht zu verhungern drohte, wenn nicht wenigstens eine Mindestversorgung sichergestellt würde. Mit seinen Beratern entwickelte der amerikanische Militärgouverneur Clay ab August 1945 eine umfassende Konzeption, die zu einer baldigen Demokratisierung des politischen Lebens auch in Hessen führte.
Zu den wichtigsten Maßnahmen gehörten die Zulassung von Gewerkschaften und politischen Parteien, der Aufbau einer unabhängigen überparteilichen Presse und die Gründung von Ländern mit verantwortlichen deutschen Regierungen. Damit wurde auch in Hessen der „Aufbruch zur Demokrade" eingeleitet, der binnen eines Jahres zum Volksentscheid über die Verfassung und zur Bildung der ersten gewählten Landesregierung unter Ministerpräsident Stock führte.
Obwohl nach der totalen Niederlage alle Machtbefugnisse auf die Sieger übergegangen waren, blieb man auch auf deutscher Seite nicht untätig. Sofort nach dem Einmarsch hatten sich hessische Politiker in Antifa-Ausschüs-sen und Bürgerräten organisiert, in „illegalen" Treffen Parteigründungen vorbereitet - Aktivitäten, die zunächst auf wenig Gegenliebe bei den amerikanischen Dienststellen stießen und von ihnen manchmal toleriert, manchmal verboten wurden.
Um so tatkräftiger haben sie die Chance zum Aufbau der Demokratie genutzt, sobald die US-Militärregierung ab Sommer 1945 die offizielle Gründung von Gewerkschaften und politischen Parteien gestattete - mochten die „gestandenen" Politiker unter ihnen auch etwas verwundert gewesen sein, wie schulmäßig die Amerikaner den Aufbau von Parteien und Gewerkschaften sowie die Wahl von Gemeindevertretungen und Parlamenten „von unten nach oben" anordneten. Viele Männer und Frauen der „ersten Stunde" waren schon in der Weimarer Republik politisch aktiv gewesen, viele von ihnen hatten unter der NS-Diktatur ihren Beruf verloren, nicht wenige waren im Widerstand tätig und in Zuchthäusern und Konzentrationslagern inhaftiert gewesen. Als es galt, den Aufbau eines demokratischen Deutschland zu wagen, sprangen sie in die Bresche und übernahmen erneut politische Verantwortung unter schwierigen Umständen und ganz außergewöhnlichen Bedingungen: Einerseits unterstanden sie den Anordnungen einer Militärregierung, zum anderen trugen sie nun die Sorge für das Wohl der Bevölkerung, die überwiegend noch von autoritären Leitbildern geprägt war und erst für die Demokratie gewonnen werden mußte.
Gleichwohl gelang es den deutschen Politikern in den ersten Nachkriegsjahren, entscheidende Grundlagen für unsere heutige parlamentarische Demokratie zu legen. Bemerkenswert war dabei auch in Hessen die Solidarität der Demokraten, die sich von Anfang an herausbildete. Die bitteren Jahre unter der NS-Diktatur hatten die Politiker der ersten Stunde ein hohes Maß an Toleranz gelehrt. Viele hofften, daß sich gesellschaftliche Gegensätze durch eine sachliche Politik versöhnen lassen würden.
Erstmals bestand jetzt in der deutschen Geschichte ein Konsens aller Parteien, daß die parlamentarische Demokratie die wünschenswerte Staatsform darstellte. Die Distanzierung von den westlichen Demokratien, die in der Weimarer Republik in konservativ-bürgerlichen Kreisen gang und gäbe gewesen war, fand in dem Parteiensystem nach 1945 keine ernstzunehmende Fortsetzung mehr.
Die Tendenz zu politischer Zusammenarbeit und Toleranz machte auch nicht vor gesellschaftlichen und konfessionellen Milieus halt, die sich in der Weimarer Republik noch politisch bekämpft hatten. Während damals katholische und evangelische Christen, gerade wenn sie kirchlich engagiert waren, unterschiedliche Parteien wählten, entstand jetzt die CDU als große interkonfessionelle Volkspartei neuen Typs.
Unverkennbar war auch, daß die SPD aus dem gesellschaftlichen Ghetto der Weimarer Zeit herausstrebte. Dies kam in der angestrebten Öffnung für bürgerliche Wähler zum Ausdruck; auch verzichtete die Parteiführung bewußt auf eine Wiederbelebung der typischen sozialdemokratischen Subkultur, wie sie in der Zeit vor 1933 bestanden hatte. Von großer Bedeutung war ferner, daß sich die Gewerkschaften zu Einheitsgewerkschaften anstelle der früheren Richtungsgewerkschaften zusammenschlössen.
Auch eine Verbesserung des Verhältnisses zur Arbeiterschaft wurde in bürgerlichen und kirchlichen Kreisen vielfach als notwendig angesehen. In der Weimarer Republik waren die politischen und sozialen Reformen, die die Arbeiterschaft in die Republik integrieren sollten, für viele bürgerliche Wähler ein wesentlicher Anlaß gewesen, der Demokratie den Rücken zu kehren. Daß nach 1945 in der Öffentlichkeit das Verständnis für die Belange der Arbeitnehmerschaft wuchs, trug entscheidend zur Funktionsfähigkeit des demokratischen Systems bei.
Der Abbau ständischer und kirchlicher Schranken förderte die Funktionsfähigkeit eines Parteiensystems, das regierungsfähige Mehrheiten möglich machte und erheblich zur politischen Stabilität der Bundesrepublik beigetragen hat.
Gerade hessische Politiker waren davon überzeugt, daß die liberale Demokratie notwendigerweise ein soziales Fundament brauche. Daher strebte die hessische Verfassung nicht nur die politische, sondern auch die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Demokratie an. Nach den Worten eines ihrer Schöpfer, des späteren Kultusministers Erwin Stein, war sie von allen Nachkriegsverfassungen „das erste Staatsgrundgesetz, das den Wandel von der nur liberal-humanitären zur sozial-humanitären Ordnung vollzogen hat". Dies äußerte sich vor allem in der konkreten Formulierung sozialstaatlicher Postulate und dem Streben nach Chancengleichheit im Bildungswesen.
Es waren vor allem die SPD und der linke Flügel der CDU, die für eine Wirtschaftsdemokratie eintraten, wie sie in der Hessischen Verfassung insbesondere durch die sofortige Sozialisierung bestimmter Industrie- und Verkehrsbetriebe durch Art. 4l und durch das Gesetz über die gleichberechtigte Mitbestimmung von Betriebsräten auch in wirtschaftlichen Angelegenheiten der Unternehmen angestrebt wurde.
Beide Entscheidungen lösten indessen grundsätzliche Konflikte mit der Militärregierung aus. Diese Meinungsverschiedenheiten fielen in die Jahre 1947 und 1948, in denen die Militärregierung entschiedener als zuvor bemüht war, durch eigene Gesetze und Erlasse ihre Vorstellungen von einer demokratischen Gesellschaft durchzusetzen. Beispielhaft seien hier die Einführung der Gewerbefreiheit — sie erwies sich als ein Segen für die nach einer selbständigen Existenz strebenden Flüchtlinge - sowie der Konflikt um die Einführung der sechsjährigen statt der traditionellen vierjährigen Grundschule erwähnt. Bei der Gewerbefreiheit setzte sich die Militärregierung durch, im Schulstreit resignierte sie. Hier behielten jene amerikanischen Kritiker recht, die schon frühzeitig vor der Utopie gewarnt hatten, daß man ein Bildungssystem exportieren und ein Volk von außen her erziehen könne. In der Tat waren die amerikanischen Erziehungsoffiziere am erfolgreichsten, wenn ihre Anregungen von deutschen Bildungsreformern aufgegriffen werden konnten, weil sie auch deutschen Reformvorstellungen entsprachen. Von großer Bedeutung waren vor allem kulturelle Initiativen, wie sie in der Gründung der Amerika-Häuser und dem amerikanischen Drängen auf einen „staatsfreien" Rundfunk zum Ausdruck kamen.
Die amerikanische Militärregierung formulierte ihre Politik auf Grund ihrer Erfahrungen im Jahr 1949 neu. Fortan hieß das Ziel nicht mehr „reeducation", sondern „reorientation": Deutschlands Hinwendung zur westlichen Welt sollte künftig allein durch kulturelle Anregungen und Initiativen gefördert werden. Und so entstand allmählich auch ein partnerschaftliches Verhältnis zwischen den Deutschen und ihren ehemaligen „Besatzern".
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