Vorbemerkung zur digitalen Neubearbeitung
von Reinhard Neebe
Die vorliegende Online-Dokumentation von DigAM basiert auf den Materialien bzw. dem Katalog der Ausstellung „Vom Neubürger zum Mitbürger. Die Aufnahme von Flüchtlingen und Vertriebenen in Wiesbaden und Hessen“, die vom Hauptstaatsarchiv Wiesbaden im Jahr 1990/91 erarbeitet worden ist. Für Ausstellungsvorbereitung und Katalog zeichneten Dr. Bernhard Parisius und Markus Müller-Henning (Kulturelle Integration, karitative Hilfeleistungen) verantwortlich. Dem Hauptstaatsarchiv Wiesbaden sowie den beiden Autoren sei gedankt für die Genehmigung zum Wiederabdruck der einleitenden Texte zu den Hauptabschnitten der Ausstellung.
Den Anstoß zur digitalen Aufbereitung der früheren Flüchtlings-Ausstellung gab das Vorhaben des Hessischen Kultusministeriums Wiesbaden, eine aktuelle Lehrerhandreichung zum Thema „Umsiedlung, Flucht und Vertreibung als internationales Problem“ für Hessische Lehrer herauszugeben. In Ergänzung zu dieser Broschüre, deren Schwerpunkt auf der europäischen Dimension der Thematik liegt und die im Laufe des Jahres 2005 publiziert werden soll, will die vorliegende Internet-Dokumentation vor allem die hessische Perspektive genauer ausleuchten: Im Mittelpunkt der Online-Ausstellung bei DigAM stehen die Fragen der Integration der Flüchtlinge in Hessen nach 1945. Dabei reicht das Spektrum von der ersten Aufnahme der Flüchtlinge 1945/46 über die wirtschaftliche, kulturelle und politische Integration in den 50er und 60er Jahren bis zu den gegenwärtigen Problemen der Aus- und Übersiedler nach der Öffnung des „Eisernen Vorhangs“ 1989/90.
Aus dem Vorwort von Wolf-Arno Kropat
Wolf-Arno Kropat hat im Vorwort des Kataloges Zielsetzung und Gegenstand der Wiesbadener Flüchtlings-Ausstellung wie folgt beschreiben. Seine einführenden Bemerkungen von 1990, die nach wie vor Gültigkeit beanspruchen können, seien hier in ihren wesentlichen Teilen wiedergegeben:
„Viele Vertriebene hatten schwere und leidvolle Erfahrungen zu bewältigen, verursacht durch Schikanen, Gewalt und Terror, die sie nach 1945 in ihrer Heimat erlebt hatten. Sie kamen als Deutsche, aber doch als Fremde in ein Land, dessen Bevölkerung ebenfalls unter den Folgen der totalen militärischen und moralischen Katastrophe litt, in der das "Dritte Reich" geendet hatte. Sie wurden verpflegt, obwohl auch die einheimische Bevölkerung damals nur Lebensmittelrationen erhielt, die weit unter dem Existenzminimum lagen. Sie mußten untergebracht werden, obwohl zahlreiche Städte durch den Bombenkrieg weitgehend zerstört waren und auch die einheimische Bevölkerung unter der Wohnungsnot litt. Zu den fast 8 Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen kamen in den 50er Jahren noch weitere Hunderttausende von "Aussiedlern" und Flüchtlingen aus der DDR über die damals noch teilweise offenen Grenzen.
Rückblickend erscheint es heute, als habe sich die Integration der Millionen Flüchtlinge und Vertriebenen in die bundesrepublikanische Wirtschaft und Gesellschaft rasch und sozusagen reibungslos vollzogen. Das "Wirtschaftswunder" der 50er Jahre brauchte Arbeitskräfte; man fand sie in den vielen tüchtigen Fachkräften aus den Vertreibungsgebieten und der DDR, hatte aber auch Arbeitsmöglichkeiten für jene, die z.B. als Landwirte in ihren alten Berufen nicht mehr tätig werden konnten.
Aber an der Wirtschaftsstatistik allein läßt sich der Prozeß einer Integration nicht messen. Die sozialen und psychischen Probleme, die Flucht und Vertreibung bei vielen Flüchtlingen zur Folge hatten, waren weit schwerer zu verkraften. Wie Millionen von Menschen dies innerlich bewältigten, ist bisher so gut wie nicht bekannt. Auch die wissenschaftliche Forschung hat erst spät begonnen, sich dieses Themas anzunehmen. Es ist das Verdienst des Hessischen Sozialministeriums, daß in Hessen vor zwei Jahren ein umfangreiches wissenschaftliches Projekt damit beginnen konnte, die Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen und ihre Rolle im Wirtschaftsleben zu untersuchen und durch Interviews und Erlebnisberichte ihre sozialen Erfahrungen festzuhalten.
Die Ausstellung versucht einen ersten Überblick über den mühsamen Weg der Integration der Vertriebenen und Flüchtlinge in Hessen nach 1945 zu geben. Sie verschweigt nicht, daß es menschliche Konflikte vieler Art gab, daß viele Vertriebene und Flüchtlinge jahrelang in einer beengten und bedrückenden Situation unter schwierigsten Bedingungen leben mußten.
Sie kann aber auch auf viele Beweise menschlicher Hilfsbereitschaft hinweisen, und besonders erwähnt sei hier die Hilfe, die von karitativen Organisationen aus Ländern kam, gegen die die NS-Diktatur eben erst Krieg geführt hatte. Vor allem aber war es die eigene Tatkraft der Vertriebenen, die ihnen unter schwierigsten Bedingungen wieder zu einer selbständigen Existenz verhalf. Sie erwiesen sich wie kaum eine andere Gruppe der Bevölkerung anpassungsfähig und leistungsbereit. Durch die Gründung zahlreicher größerer und kleinerer Unternehmen trugen die Vertriebenen selbst ganz erheblich zum Wirtschaftswunder und zur Verbesserung der Wirtschaftsstruktur in Hessen und der Bundesrepublik bei. Die Hessische Landesregierung unterstützte den wirtschaftlichen Integrationsprozeß durch bundesweit beachtete Initiativen. Insbesondere der "Hessenplan" trug nach 1950 dazu bei, Wohnungen und Arbeitsplätze für die Flüchtlinge zu schaffen. Im Zusammenwirken aller dieser Kräfte, vor allem aber dank der Initiative und Selbsthilfe der Vertriebenen, konnte die Aufnahme und Integration der Heimatvertriebenen begonnen werden - ein einzigartiges Beispiel in einer Welt, in der häufig genug Millionen von Flüchtlingen jahrzehntelang in Lagern leben, ohne Arbeit und Zukunft, getragen nur von der vergeblichen Hoffnung auf die Rückkehr in ihre Heimat.
Dies alles darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß bis in die Mitte der 50er Jahre die Arbeitslosigkeit unter den Vertriebenen noch unverhältnismäßig hoch war und viele nicht in ihrem früheren Beruf tätig werden konnten. Manche konnten sich hier neu qualifizieren, andere, vor allem ältere Arbeitnehmer mußten einen sozialen Abstieg hinnehmen. Wirtschaftliche Integration bedeutete in vielen Fällen noch nicht soziale Integration.
Die Ausstellung berücksichtigt aber auch - am Beispiel der Wolhyniendeutschen - das Schicksal jener Volksdeutschen, die während des 2. Weltkrieges im Zuge der Bevölkerungspolitik des NS-Regimes umgesiedelt wurden; sie erinnert auch daran, daß damals im Rahmen der nationalsozialistischen Lebensraumpolitik über eine Million Polen aus dem neugeschaffenen "Warthegau" und dem Gau Danzig-Westpreußen vertrieben wurden, um die Ansiedlung deutscher Bauern zu ermöglichen.“
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