Die Novemberrevolution und die Bildung der Arbeiter- und Soldatenräte
- Revolution und Rätebewegung
Ende Oktober 1918 befahl die Seekriegsleitung der deutschen Hochseeflotte einen letzten Angriff auf die Schiffe der britischen Marine im Ärmelkanal – ein angesichts der militärischen Lage sinnloses und für die Schiffsbesatzungen Tod bringendes Unterfangen, das ohne Wissen der Reichsregierung geplant worden war. Der Flottenbefehl wurde durch große Teile der Mannschaften verweigert, die zudem durch Sabotageakte mehrere Schlachtschiffe am Auslaufen hinderten und den Angriffsplan hierdurch zu Fall brachten. Als die Seekriegsleitung mehr als 1.000 der meuternden Matrosen verhaften und in Wilhelmshavener und Kieler Militärgefängnisse verbringen ließ, führte dies binnen Kurzem zu einer „Revolution von unten“.
In Kiel entwaffneten die Matrosen ihre Offiziere, zwangen den Militärgouverneur, die verhafteten Meuterer freizulassen, brachten neuralgische Punkte in der Stadt unter ihre Kontrolle und wählten nach russischem Vorbild am 4. November Soldatenräte. Nach Solidarisierung der Kieler Werft- und Industriearbeiter und unter Beteiligung der beiden sozialdemokratischen Parteien SPD und USPD wurde dort noch in der Nacht auf den 5. November ein „Provisorischer Zentraler Arbeiter- und Soldatenrat“ als neues Machtorgan gebildet.
Von Kiel ausgehend wurde zunächst Norddeutschland, anschließend das gesamte Reich von einer revolutionären Welle erfasst, an deren Ende von SPD und USPD getragene Räte die Macht übernahmen. Das alte monarchische System zerbrach. Nachdem Reichskanzler Prinz Max von Baden am 9. November den Verzicht von Kaiser und Kronprinz auf den deutschen Kaiserthron und den preußischen Königsthron verkündet hatte, übertrug er das Reichskanzleramt dem SPD-Vorsitzenden Friedrich Ebert. Noch am selben Tag riefen der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann vom Reichstagsgebäude die „deutsche Republik“ und der Unabhängige Sozialdemokrat Karl Liebknecht vom Berliner Schloss die "sozialistische Republik" aus.
Im Laufe der ersten Novemberhälfte wurde auch das Gebiet des heutigen Bundeslandes Hessen von den revolutionären Umwälzungen erfasst. Initiiert von durchziehenden Matrosen oder durch lokale Kräfte angestoßen, bildeten sich allenthalben Arbeiter- und Soldatenräte, die – zumeist ohne Anwendung von Gewalt – die Kontrolle vor Ort übernahmen. Im nördlichen Teil der damaligen preußischen Provinz Hessen-Nassau mit der Hauptstadt Kassel orientierten sich die Räte im Wesentlichen an der politisch gemäßigten Linie des von den Mehrheitssozialdemokraten dominierten Rates der Volksbeauftragten bzw. der Reichsregierung, weniger an den radikaleren und von spartakistischen Ideen beeinflussten Positionen der Unabhängigen Sozialdemokraten. In Kassel selbst entstand ein „Zentraler Arbeiter- und Soldatenrat“, der sich als oberstes Vollzugsorgan der Räte für den gesamten nördlichen Regierungsbezirk etablieren konnte.
In den einzelnen Städten und Landkreisen und auch auf Ebene der Bezirksregierungen bestanden die alten Verwaltungsstrukturen neben den neu geschaffenen revolutionären Gremien allerdings weitgehend bruchlos fort. So bildete sich in den ersten Wochen nach dem Umsturz auf lokaler wie regionaler Ebene vielfach ein zwar konfliktreiches, aber letztlich auch von wechselseitigen Abhängigkeiten geprägtes Nebeneinander von Rätebewegung und alten Strukturen heraus, das ein Charakteristikum der Umbruchphase 1918/1919 darstellt.
Antriebskräfte der Novemberrevolution waren das Streben nach einer tiefgreifenden Demokratisierung, einer Umwandlung des monarchischen Systems in eine republikanische Staatsform sowie – mal mehr, mal weniger prononciert vorgetragen – die Überführung von Schlüsselindustrien in Gemeineigentum.
Nach Etablierung des „Rätesystems“ sahen sich die neuen Kontrollorgane jedoch zuvorderst mit den drängenden tagesaktuellen Aufgaben konfrontiert: Gewährleistung der inneren Sicherheit, Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln und Heizmaterial, Bekämpfung der Wohnungsnot in den Städten, Demobilisierung der Soldaten und deren Wiedereingliederung in das Wirtschaftsleben. Zur Bewältigung dieser Herausforderungen waren die Revolutionsgremien, die nicht über das hierzu notwendige Personal verfügten, auf die wilhelminischen Großagrarier und Offiziere, Verwaltungsbeamten, Richter und Polizeiführer angewiesen. Eben jene hätten jedoch von ihren Posten entfernt werden müssen, um eine Demokratisierung von Dauer zu erreichen. Angesichts dieses Dilemmas zwischen einer Vollendung der Revolutionsziele auf der einen und der Bewältigung der aktuellen Problemstellungen auf der anderen Seite folgte die Mehrheit der Räte der Linie des Rates der Volksbeauftragten und gab Letzterem den Vorrang.
So kam es während des Jahres 1919 zu einem oftmals paradox anmutenden Zusammenwirken von Verwaltungsbehörden und revolutionären Organen, nicht zuletzt aufgrund der Frage der Finanzierung der Räte. Da die Mitglieder ihre ursprünglichen Berufe zumeist aufgaben, war für sie von erheblicher Bedeutung, ob und wie entstandene Kosten gedeckt wurden. Nicht nur benötigten die Revolutionäre Mittel, um ihren und den Unterhalt ihrer Familien bestreiten zu können, sondern es waren Anschaffungen von Arbeitsmaterial und das Anmieten von Räumlichkeiten notwendig.
Für die Provinz Hessen-Nassau galt ein Erlass der preußischen Regierung vom November 1918, demgemäß die Kosten der Räte jeweils von der Stelle zu begleichen waren, bei der sie ihre Tätigkeit ausübten. So wurden Räte mit einem städtischen Wirkungsbereich aus den kommunalen Haushalten, Räte auf Ebene der Regierungsbezirke durch die Staatskasse finanziert. Ein Selbstläufer war diese Regelung allerdings nicht. Kosten mussten im Einzelfall durch Belege nachgewiesen werden und wurden bei Weitem nicht immer anstandslos beglichen. Ganz im Gegenteil: Über die Finanzierung und die hierdurch bestehende Abhängigkeit der Räte besaßen Kommunen und staatliche Stellen Möglichkeiten der Einflussnahme und Kontrolle. Somit stieß die konsequente Umsetzung der Revolutionsziele vielerorts an eine Grenze.
Nach der Wahl zur Nationalversammlung wurde die Rätebewegung in Hessen insgesamt merklich schwächer und löste sich ab Frühjahr 1919 schleichend auf, war doch zumindest das wesentliche Ziel der SPD, eine parlamentarische Demokratie, erreicht und die Übergangsstruktur des Rätesystems aus ihrer Sicht nicht mehr notwendig.
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