1. Märzunruhen
Die Nachricht vom Sturz des französischen Königs löste in deutschen Ländern Freudendemonstrationen aus, in Marburg bereits am 29. Februar. Rasch wurden Petitionen verfasst und von Delegationen aus den Städten dem Kurfürsten vorgetragen. Bürger der Stadt Marburg forderten etwa das Vereins- und Versammlungsrecht, die Abschaffung der Zensur, dazu die Stärkung der Gemeindeebene, die Einführung öffentlicher und mündlicher Gerichtsbarkeit und das kurfürstliche Hinwirken auf eine Nationalvertretung (Dok. 2). Die Marburger Landgemeinden fügten u.a. hinzu, die alten Lehnsverhältnisse mögen beseitigt werden (Dok. 3) und Studierende der Marburger Universität wollten ihre mit Lehrverbot belegten Professoren wieder haben sowie den Zugang zum universitären Debattierclub (Dok. 4).
Es fällt auf, dass abgesehen von der Aufforderung, sich für eine Nationalvertretung einzusetzen, fast alle Forderungen darauf hinauslaufen: der Kurfürst solle seine Verfassung einhalten. In der Petition Kasseler Bürger vom 5. März wird aufgezeigt, wie bisher immer wieder Garantien der Verfassung plump oder auch mal trickreich ausgehebelt wurden (Dok. 5). Die Autoren machten dafür aber nicht den Kurfürsten verantwortlich, sondern seine von ihm eingesetzten Minister, vor allem Innenminister Hassenpflug, und forderten entsprechend deren Absetzung. Die Versuche der Ständeversammlung (der Landtag des Kurfürstentums), die Minister wegen Verstößen gegen die Verfassung zu entlassen, waren bisher alle fehlgeschlagen, weil die Macht der Regierung bei Einstellung und Versetzung der Richter am Obersten Appellationsgericht (heute wäre das der Hessische Staatsgerichtshof) einfach zu groß war. Das abzuändern gehörte auch zu den frühen Märzforderungen.
Die Bittschriften waren in einem unterwürfigen Ton gehalten und stark um Verständnis bemüht. Die Reaktion von Friedrich Wilhelm I. fiel entsprechend aus. Am 6. März (Dok. 6) teilt er einer Delegation mündlich mit, er habe bereits von ganz alleine eine Ständeversammlung einberufen, um mit ihr ein Pressegesetz zu beraten und er werde der Versammlung auch die weiteren Bitten und Anträge aus der Bevölkerung vorlegen.
Am 7. März verkündet der Kurfürst dann schriftlich die Aufhebung der Zensur "bei der Besprechung innerer Landesangelegenheiten" (Dok. 7). Dieses erste echte Zugeständnis wird begrüßt (Dok. 8), aber nun auch mit einer landesweiten Petitionskampagne begonnen, an deren erster Stelle die "unbedingte Pressefreiheit, nicht blos für innere Angelegenheiten" steht (Dok. 9).
In Hanau, der einzigen Stadt mit einem bedeutenden Arbeiteranteil im Kurfürstentum, wurde die fürstliche Proklamation dagegen schlicht als unvollständig kritisiert und eine Nachbesserung eingefordert, versehen mit einem dreitägigen Ultimatum und der Drohung, sich andernfalls nach einem anderen Land umzusehen (Dok. 10). Das war mal ein ganz anderer Ton. Und der zeigte Wirkung. Noch vor Ablauf des Ultimatums gab Friedrich Wilhelm I. am 11. März allen Forderungen nach (Dok. 11).
So schwer war das allerdings nicht, denn auch aus Hanau bewegten sich die Forderungen im Rahmen der bereits 17 Jahre zuvor gewährten Verfassung: Vollständige Pressefreiheit, vollständige Religions- und Gewissensfreiheit, Rücknahme aller Beschlüsse, die das Petitions-, Vereins- und Versammlungsrecht einschränken, Amnestie für alle seit 1830 begangenen politischen Vergehen und die Neubesetzung der Ministerien.
Waren die frühen Märzforderungen in Kurhessen nun eher bescheiden oder war einfach die Landesverfassung so fortschrittlich? Beides traf zu. Die Verfassung war eine der freiheitlichsten seiner Zeit, und den Fürsten vom Hof jagen wollten zunächst die wenigsten.
Zu Straßenkämpfen kam es in Kurhessen nur in Hanau, üblich waren Demonstrationszüge, die an den Häusern der fortschrittlichen Politiker ein Ständchen und bei den Reaktionären eine Katzenmusik darboten. Letzteres traf in Marburg regelmäßig den Gymnasialdirektor August Vilmar, der jede Verfassung ablehnte und dies in seiner Zeitung "Der hessische Volksfreund" verbreitete. Dabei gingen häufig auch Fensterscheiben zu Bruch. In Kassel führte das brutale Eingreifen von Gardesoldaten während einer solchen Katzenmusik zu Toten und Verletzten (Dok. 12). Nachdem sich Bürger bewaffnet hatten und ihrerseits diese Soldaten angriffen, erreichten sie beim Kurfürsten den Abzug des Gardekorps aus Kassel.
Die Volksversammlung etablierte sich in Marburg wie andernorts auch zu einer regelmäßigen Einrichtung. Diese ernannte einen Volksrat, dessen Aufgabe es war, Bitten und Beschwerden der Bürger an die richtige Stellen gelangen zu lassen (Dok. 13). Der Marburger Volksrat wollte z.B., dass den Städten die Polizeigewalt übertragen wird und das leitende Verwaltungspersonal auf Gemeinde-, Bezirks- und Provinzebene gewählt wird (Dok. 14); oder auch, dass die Beratungen von Gemeinde- und Stadtgremien öffentlich sind (Dok. 15).
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