5. Gedächtnisort: Das Preußische Provinzialarchiv im Landgrafenschloss
Nach der Annexion des Kurfürstentums Hessen durch Preußen wurde das Schloss zum Staatsarchiv umfunktioniert. 1869 wurde das Gefängnis geräumt und Archivare und gelehrten Archivbenutzer wurden die neuen Bewohner des Anlage. In der Marburger Bevölkerung wurde die Zusammenführung der ältesten und wertvollsten Dokumente zur hessischen Landesgeschichte im Landgrafenschloss einhellig begrüßt. Die neu mit der Preußischen Monarchie vereinigte Bevölkerung, so Archivdirektor Gustav Könnecke im Jahre 1876, erlebte es in den ersten Jahren der Annexion, dass das neue Regiment für dasjenige Schloss, welches als Stammschloss seines Dynastenhauses anzusehen ist, mehr Pietät hatte, als das hessische Fürstenhaus selbst, durch welches dasselbe schnöder Weise zum Gefangenenhause herabgewürdigt war (Dok. 5.4). Könneckes Kollegen waren zunächst allerdings alles andere als begeistert von der Aussicht, im Schloss arbeiten und im Marstall ihre Dienstwohnungen beziehen zu müssen. Als der Kasseler Archivdirektor Strippelmann 1869 von dem bevorstehenden Umzug hörte, schrieb er an seinen Freund, den Regierungs- und Baurat Lichtenberg: Ich fürchte mich greulich vor den Wanzen, die im Schloss furchtbar hausen mögen, nach den Bestimmungen, die solches gehabt hat (Dok. 5.2). Das Zusammenleben der Archivräte im Marstall - der Archivdirektor bewohnte die ehemalige Schmiede - förderte zwar das Zusammengehörigkeitsgefühl und den geselligen Austausch, der Wohnkomfort ließ jedoch durchaus zu wünschen übrig. 1871 beklagte sich der Archivar Grein beim Landbaumeister über die bedrohlichen Übelstände in seiner Dienstwohnung. Durch die Kälte war der Abtritt derart verstopft, dass er überzulaufen drohte; auf dem Dachboden lag Schnee, weil das Dach undicht war; und in seinem Arbeitszimmer hatte sich die Wand so stark gesenkt, dass die Tür, über der sich bedrohliche Risse in der Tapete zeigten, kaum noch geöffnet werden konnte (Dok. 5.3). Im Laufe der Jahrzehnte besserten sich die Wohn- und Arbeitsbedingungen, komfortabel waren sie jedoch nie. So ist es nicht verwunderlich, dass der 1938 erfolgte Umzug des Staatsarchives vom Schloss in das neue Dienstgebäude im Marburger Südviertel allgemein begrüßt wurde. Insgesamt beherbergte das Schloss annähernd 70 Jahre - von 1869 bis 1938 - das Staatsarchiv.
Während die Archivare sich im Südviertel längst eingelebt hatten und gar nicht mehr auf die Zeit im Schloss zurückblickten oder es gar vermissten, pflegen sie dennoch bis heute Traditionen, die in jener Zeit begründet wurden. Das alljährliche um den Martinstag stattfindende "Gänseessen" (Dok. 5.8) ist ein Beispiel dafür. Das Amt des "Gänsevogts", dem die Auswahl des Speiselokals, die Festlegung der Marschroute und der Menüfolge sowie die Einführung in den geselligen Abend obliegt, ist eines der wichtigsten Ämter im Staatsarchiv, auch wenn es in keinem Organigramm auftaucht.
Welch hohen Stellenwert man zu allen Zeiten der Geselligkeitspflege und dem fachlichen Austausch beimaß, lässt sich u. a. auch an phantasievoll gestalteten Archivtagseinladungen ablesen (Dok. 5.6). Als die Archivare 1913 Kollegen aus dem ganzen Reichsgebiet zum "Westdeutschen Archivtag" nach Marburg einluden, war folgender Ablauf vorgesehen (Dok. 5.7): Die Zusammenkunft sollte mit einem Frühstück bei "Seebode" in der Reitgasse beginnen, danach wollte man vom Rudolfsplatz auf den Frauenberg fahren, dort das Mittagessen zu sich nehmen und anschließend nach einem kleinen Schlenker über den Elisabethbrunnen im "Hansenhaus" einkehren, wo wahlweise entweder Kaffee und Kuchen oder Bier und Vesperbrot gereicht werden sollten. Nachdem man die auswärtigen Gäste zum Bahnhof geleitet hatte, versammelte sich der Rest, soweit er dazu noch imstande war, wieder in der Reitgasse zum "Schlusstrunk" bei Bopp. Den beschwerlichen Weg zum Schloss wollte man sich und den Teilnehmern tunlichst ersparen; die Arbeitsstätte sollte nur dann in den Rundgang einbezogen werden, wenn die Gäste dies ausdrücklich wünschten, was nicht der Fall gewesen zu sein scheint.
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