10. Judenordnungen und die Reglementierung des jüdischen Lebens in Hessen-Kassel 1649-1795
Ab dem Spätmittelalter war der Rechtsstatus der Juden formal durch das Instrument der Aufnahme in den Schutz, den „Schutzbrief“, gekennzeichnet. Diese Schutzbriefe wurden ganz überwiegend befristet erteilt, im Allgemeinen auf ein bis sechs Jahre, an Einzelpersonen, in der Regel Haushaltsvorstände, die für Familie oder Gesinde hafteten. Daneben wurden auch kollektive Privilegien für ganze Gemeinden oder zumindest Personengruppen vergeben. Die Erteilung des Schutzbriefs geschah gegen Entgelt, regelmäßig wurde dabei den individuellen Lebensverhältnissen entsprechend eine unterschiedlich hohe Jahressteuer festgelegt. Mit Ablauf des Schutzbriefs konnte, musste jedoch nicht, die Aufenthaltsberechtigung erlöschen, was die Ausweisung bedeutete. Jedenfalls bot die Befristung Gelegenheit zu Anhebeung der Steuern oder weiterer Bedingungen. Der individuelle wie der kollektive Schutzbrief gewährten das Wohnrecht und versprachen Schutz gegen Zahlung einer Jahressteuer. Oft wurde darin ausdrücklich die Erlaubnis zur Geldleihe erteilt oder diese, vielfach mit der Festlegung des Zinssatzes und Bestimmungen zum Pfandwesen näher geregelt. Mit der Erteilung des Schutzbriefes erfolgte in der Regel die Aufnahme zum „Judenbürger“, was mit Leistung des Bürgereides und anschließender Eintragung in ein Bürger- oder Amtsbuch verbunden war.
Das Bestreben der sich konsolidierenden Landesherrschaft, alle bestehenden Einnahmequellen zu rationalisiern und damit auch die Nutzung des Judenregals zu sichern, wurde zu einem wesentlichen Motiv für die Ausarbeitung der Judenordnungen, die mit kaiserlichen Privilegien und Ordnungen in Konkurrenz traten. Die im 16. Jahrhundert einsetzenden Bemühungen um den Erlass von Judenordnungen müssen als etwas grundsätzlich Neues angesehen werden. Kaiserliche Ordnungen des Spätmittelalters zugunsten der Judenschaft im Reich trugen im Wesentlichen noch Privilegien- und Schutzcharakter und entsprangen der Initiative der Judenschaft selbst, der an wirtschaftlichem Schutz gelegen war. Eine Sonderstellung nehmen auch die schon im Spätmittelalter häufig anzutreffenden städtischen Judenordnugen ein, die im Rahmen des umfassenden städtischen Satzungsrechts gesehen werden müssen. Je nach Bedürfnis wurden von Fall zu Fall Regelungen getroffen, die das in den Schutzbriefen festgelegte Recht ergänzten, modifizierten oder dort erhaltene Rahmenbestimmungen ausfüllten. Übergreifende theoretische Gesichtspunkte für den Erlass einer Judenordnung waren noch nicht vorhanden.
Dies änderte sich mit den landesherrlichen Judenordnungen des 16. und 17. Jahrhunderts, die im Zusammenhang mit dem sich konsolidierenden Territorialstaat gesehen werden müssen. Die erste Gesetzgebungswelle des 16. Jahrhunderts hatte Auswirkungen auf den Rechtsstatus der Juden. In Zukunft konnten sie sich auf eine Reihe von allgemeinen Bestimmungen berufen und diese ggf. gerichtlich durchsetzen. Dazu dürfte im Allgemeinen das bisher überkommene Recht keine ausreichende Handhabe geboten haben. Der Besitz eines Schutzbriefes verschaffte seinem Inhaber das Recht zur Teilhabe an dem jeweils geltenden allgemeinen Judenrecht. Hinzu kam vor allem in den protestantischen Territorien seit der Reformationszeit eine erkennbar werdende Sorge des Landesherrn oder der Stadtobrigkeit um das geistliche Wohlergehen und den Lebenswandel der Untertanen und Bürger. Neben die Sorge für den christlichen Lebenswandel der Untertanen trat das Bestreben, eine Übervorteilung der Einwohner durch angeblich unlautere Geschäftspraktiken der Juden verhindern.
Als wesentliche Beweggründe für die Schaffung landesherrlicher und städtischer Judenordnungen müssen deshalb dreierlei Dinge berücksichtigt werden. Einerseits ging es wie bei allen Landesordnungen der Frühen Neuzeit um eine Kodifizierung und Vereinheitlichung des unsicher gewordenen Rechts, ein Gesichtspunkt, der für das Judenrecht in besonderem Maße galt, da dieses in einer Vielzahl von Einzelschutzbriefen, Privilegien und Statuten festgehalten war und für die landesherrliche Verwaltung oder die Stadtobrigkeit kaum noch überschaubar blieb. Andererseits musste das landesherrliche Judenregal, das zusammen mit anderen Regalien eine wesentliche Funktion bei der Ausbildung der Landeshoheit spielte, in Bestand und Auswirkungen gesichert und für die territoriale Finanzverwaltung nutzbar gemacht werden, was nur durch eine genaue Abgrenzung gegenüber den alten kaiserlichen Schutzrechten und den weiter in Anspruch genommenen Befugnissen aus der kaiserlichen Kammerherrschaft möglich erschien. Und schließlich machte das Schutzbedürfnis der christlichen Untertanenschaft in religiöser und wirtschaftlicher Hinsicht eine möglichst detaillierte Regelung erforderlich, die einen Austausch geistigen Gedankenguts sowie einen freien wirtschaftlichen Marktverkehr unterbinden sollte. Dahinter stand die Angst vor den Auswirkungen der kaufmännischen Geschicklichkeit der Juden, die durch ihre Spezialisierung auf Handel und Gewerbe überterritorialer Verbindungen geschäftlicher und verwandschaftlicher Art mit ganz die moralische Kraft jüdischer Geistesleistungen und ein Eindringen talmudischer Lehre in der Bevölkerung.
Alle drei Beweggründe müssen in ihrer Einheit gesehen werden. Erst dieses komplexe Motivbündel führte zum Typus der neuzeitlichen Judenordnung.
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