5. Rache der politischen NS-Justiz 2: Zahlungsbefehle des Preußischen Staates an den Polizeipräsidenten Hohenstein und den Polizei-Oberstleutnant Schulz (1936-1941)
Nachdem der Urteilsspruch im Dienststrafverfahren gegen den Kasseler Polizeipräsidenten a. D. Adolf Hohenstein ergangen war [Dokument 1] und während das Dienststrafverfahren gegen den Polizei-Oberstleutnant a. D. Otto Schulz noch lief [Ausstellungsraum 4], setzte der Preußische Minister des Innern seit dem Frühjahr 1936 alle juristischen Hebel in Bewegung, um einen Zahlungsbefehl in Höhe von insgesamt 6000 Reichsmark gegen die beiden ehemaligen Polizeibeamten zu erwirken [Dokument 2]. Bei dem Betrag handelte es sich um die nach einem juristischen Vergleich von 1933 erfolgte Entschädigungzahlung des Preußischen Staates an die Witwe Elfriede Messerschmidt, deren Ehemann – der NSDAP-Stadtverordnete Heinrich Messerschmidt – in Folge der Ereignisse vom 18. Juni 1930 der tödlichen Verwundung eines Messerstichs erlegen war [Ausstellungsraum 3].
Im Zuge der Dienststrafverfahren gegen Hohenstein und Schulz wegen Verletzung der Amtspflicht hatten nach Auffassung der zuständigen Justiz die zwei Angeklagten sich als Hauptverantwortliche des Polizei-Einsatzes vom 18. Juni 1930 eines grob fahrlässigen Verhaltens schuldig gemacht. Waren aus juristischer Perspektive somit Hohenstein und Schulz als die für den Tod von Messerschmidt zumindest indirekt Verantwortlichen erkannt, sollten sie jetzt auch finanziell dafür belangt werden, indem der Preußische Staat die einst an Elfriede Messerschmidt gezahlten 6000 Reichsmark von ihnen zurückforderte.
Da der Aufenthaltsort Hohensteins schon im Frühjahr 1936 laut Aktenüberlieferung für die Behörden nicht mehr zu ermitteln war – über sein Schicksal als deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens nach 1936 drängen sich aus heutiger Sicht bestimmte Vermutungen auf – verlegte sich das Preußische Innenministerium darauf, den ehemaligen Polizei-Oberstleutnant Schulz im Zweifelsfall zur alleinigen Zahlung der kompletten Summe aufzufordern [Dokument 3]. Die Klageschrift der Anwaltskanzlei Rocholl im Namen des Preußischen Staates vom 10. Juni 1936 richtete sich zwar noch an die beiden Polizeibeamten a. D. als die Beklagten, sie wurde allerdings lediglich durch den Rechtsanwalt Walter Isele im Namen von Otto Schulz erwidert [Dokument 4, 5]. Im Mittelpunkt des umfangreichen Schriftwechsels zwischen den Rechtsanwälten Rocholl und Isele, der sich bis in das Jahr 1937 erstreckte, stand wiederum die Frage, was sich beim Einsatz der Schutzpolizei in der Kasseler Altstadt am 18. Juni 1930 „wirklich“ ereignete, und welche Verantwortung Schulz als damaliger Kommandeur der Schutzpolizei für diese Ereignisse trug [Dokument 6, 7].
Zur Vermeidung weiterer Prozesskosten unterbreitetete das Landgericht Kassel schließlich im Einvernehmen mit dem Reichsführer SS den Beklagten Hohenstein und Schulz am 2. Juni 1937 einen Vergleichsvorschlag, der für Schulz die einmalige Zahlung von 500 Reichsmark an den preußischen Fiskus vorsah [Dokument 8, 9]. Isele lehnte diesen Vergleich jedoch mit dem Hinweis ab, gegen seinen Mandanten schwebe bereits seit anderthalb Jahren ein Dienststrafverfahren, in dessen weiterem Verlauf man die Vergleichszahlung von 500 Reichsmark als ein Schuldeingeständnis des Angeklagten werten könne [Dokument 10].
Der Gesundheitszustand von Otto Schulz hatte sich in der Zwischenzeit so rapide verschlechtert, dass sein Rechtsanwalt in einem Schreiben vom 15. Oktober 1937 die Verteidigung der Gegenseite darauf hinwies, dass im Falle einer von Schulz ausgehenden Enschädigungsklage etwaige Forderungen nach Schmerzensgeld höher ausfallen würden als die finanziellen Ansprüche des Preußischen Fiskus in der Angelegenheit Messerschmidt [Dokument 11]. Was die einschlägige Aktenüberlieferung in diesem Zusammenhang nur indirekt belegt: Schulz war im Zuge des gegen ihn eingeleiteten Dienststrafverfahrens als "Landesverräter" öffentlich an den Pranger gestellt worden. Am 21. Februar 1935 war er offenbar einem politisch motivierten, gewaltsamen Übergriff zum Opfer gefallen und hatte dabei schwere psychische und physische Verletzungen davongetragen. Die Folgen der öffentlichen Beleidigung und der körperlichen Misshandlung für den Gesundheitszustand von Schulz belegten die medizinischen Gutachten der Berliner Ärzte Dr. Zander und Dr. Hermann. Sie lagen dem entsprechenden Schriftsatz von Isele bei [Dokument 11].
In den beiden folgenden Jahren 1938 und 1939 ruhte das Verfahren gegen Schulz, doch Schulz selbst ruhte nicht: Am 19. Oktober 1938 wurde er in einem parallel gegen ihn laufenden Prozess vor der Dienststrafkammer Berlin wegen Dienstvergehen verurteilt. Nach einer Berufung wurde das Verfahren gegen Schulz erst im Herbst des nächsten Jahres eingestellt [Ausstellungsraum 4]. Ein Jahr später kam das Verfahren gegen Schulz vor dem Landgericht Kassel erneut in Gang [Dokument 12]. Nach dem langjährigem Prozess einigten die gegnerischen Parteien sich nun zügig auf einen Vergleich, in dem Kläger und Beklagter die jeweils gegen den anderen erhobenen Forderungen fallen ließen [Dokument 13, 14]. Einen Tag nach Neujahr 1941 beurkundete das Gericht den Vergleich [Dokument 15]. Das Verfahren war abgeschlossen.
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