4. Rache der politischen NS-Justiz 1: Schikane und Dienststrafverfahren gegen den Polizeipräsidenten Hohenstein und den Polizei-Oberstleutnant Schulz (1933-1938)
Der so genannte „Preußenschlag“ – der Staatsstreich des Reichskanzlers Franz von Papen gegen die sozialdemokratische Regierung des Ministerpräsidenten Otto Braun in Preußen am 20. Juli 1932 – zeitigte auch in Kassel schnell politische Wirkung: Noch am folgenden Tag wurden der Oberpräsident von Hessen-Nassau, August Haas, und der Polizeipräsident in Kassel, Dr. Adolf Hohenstein, in den vorzeitigen Ruhestand versetzt. Somit wurden zwei sozialdemokratische Beamte, die sich zuvor als entschlossene Verteidiger der Republik immer wieder gegen die nationalsozialistische Bewegung in Hessen gestellt hatten, kurzerhand aus ihren Schlüsselpositionen entfernt.
Für die neuen Machthaber war der Fall Hohenstein mit dessen Entlassung allerdings noch nicht erledigt: Am 31. März des Jahres 1933 führte die „Kasseler SS 35“ in Hohensteins Wohnsitz in Boppard am Rhein eine bis zum Morgen des nächsten Tages andauernde (!) Haussuchung durch, nachdem sie Adolf Hohenstein selbst nicht im Hause angetroffen hatte. Die Ehefrau Olga Hohenstein wandte sich als bestürzte Zeugin dieser Willkür-Aktion mit einem Brief an den Regierungspräsidenten in Kassel, in dem sie um die Rückgabe der Gegenstände bat, die die Kasseler SS im Zuge ihrer Haussuchung einfach mitgenommen hatte [Dokument 1]. Nachdem der Regierungspräsident sich zweimal bei der verantwortlichen NSDAP-Gauleitung Kurhessen nach dem Verbleib der Gegenstände erkundigt hatte, erhielt er zur Antwort, sämtliche Gegenstände aus der Haussuchung beim ehemaligen Polizeipräsidenten Hohenstein seien an den amtierenden Polizeipräsidenten ausgeliefert worden – mehr fest zu stellen, sei nicht möglich [Dokument 2].
Die zweite Anfrage des Regierungspräsidenten ging wahrscheinlich auf den Erhalt eines zweiten, handschriftlichen Briefes zurück, den Hohenstein selbst am 15. Mai 1933 verfasst hatte. Darin zählt Hohenstein zwar ohne Anspruch auf Vollständigkeit aber umso detaillierter die aus seinem Haus entwendeten Gegenstände auf, darunter die eigenen Personalakten, insbesondere zahlreiche amtliche Ernennungsurkunden, Kauf- und Sparbuchakten, Sparkassenbücher, Urkunden über die Teilnahme am 1. Weltkrieg nebst Kriegsauszeichnungen in Gestalt des Eisernen Kreuzes 1. und 2. Klasse sowie eine beträchtliche Summe Bargeld [Dokument 3]. Ein später angelegtes Verzeichnis des Kriminalassistenten Hellwig vom 22. und 23. Juni 1933 über die an Hohenstein zurückgesandten Gegenstände aus der Haussuchung kam mit Hohensteins eigener Aufstellung freilich nicht mehr zur völligen Deckung [Dokument 4]: Abgesehen von fünf Reichspfennig in einer Handtasche fand sich in dem Verzeichnis kein Eintrag über Bargeld, laut Hellwig habe man bei der Durchsicht „keine Geldnoten zwischen den Sachen vorgefunden.“
Die Verteidigung des Weimarer Rechtsstaats sollte für Hohenstein nach der „Machtergreifung“ auch noch juristische Konsequenzen haben: Er musste sich vor der Dienststrafkammer Koblenz wegen Verletzung der Amtspflicht einem Gerichtsverfahren stellen. Das schließlich gegen Hohenstein ergangene Urteil vom 2. März 1936 lautete auf Verlust des Ruhegehalts, Verlust der Hinterbliebenenversorgung und Verlust der Amtsbezeichung [Dokument 5]. In der mehr als sechzig Seiten umfassenden Urteilsbegründung wurden ihm insbesondere sein „Zurückweichen vor dem kommunistischen Straßenterror“ und ein „kleinliches und schikanöses Verhalten gegenüber der nationalen Bewegung“ zum Vorwurf gemacht. In diesem Zusammenhang wurde nochmals auf die „grobe Fahrlässigkeit bei den Vorfällen am 18. Juni 1930“ und auf den „Gummiknüppelbefehl bezgl. der Wilhelmstrasse am 1. Juli“ hingewiesen. Beide Ereignisse hatten ihrer Zeit bekanntlich zur Einleitung von Strafverfahren gegen Roland Freisler wegen Beleidigung und Landfriedenbruch geführt [Ausstellungraum 1]. Das „scharfe Vorgehen gegen […] den damaligen Rechtsanwalt“ wurde in der Urteilsbegründung ebenfalls gerügt.
Der Ausgang des Entschädigungsprozesses der Witwe Elfriede Messerschmidt im Sommer 1933 [Ausstellungsraum 3] hatte es wahrscheinlich gemacht, dass auch gegen den am 31. Mai des selben Jahres vorzeitig in den Ruhestand versetzten Polizei-Oberstleutnant a. D. Otto Schulz ein politisch motiviertes Dienststrafverfahren nach dem Muster des Hohenstein-Verfahrens angestrengt werden würde. Am 24. Juni 1934 leitete die Dienststrafkammer Berlin ein entsprechendes Verfahren gegen Schulz wegen Verletzung der Amtspflicht ein [Dokument 6]. Juristische Verwendung fand in diesem Verfahren auch ein Gedächtnisprotokoll des Polizeimajors Kiel über den vier Jahre zurückliegenden Einsatz (!) der Schutzpolizei am 18. Juni 1930, das unter anderem dem vorgefassten Verdacht Nahrung gab, Schulz sei „recht einseitig gegen die NSDAP eingestellt“ gewesen [Dokument 7].
In einer an den preußischen Minister des Innern gerichteten Stellungnahme vom 5. August 1934 bekräftigte Schulz hingegen, „seine volle Pflicht“ getan zu haben [Dokument 8]. Aus dem Schreiben geht auch hervor, dass man Schulz von höherer Stelle „nahegelegt“ hatte, vorzeitig aus dem Dienst zu scheiden, um „disziplinaren Maßnahmen auszuweichen“; sein diesbezüglicher Versuch, das Dienststrafverfahren formaljuristisch abzuwenden, wurde jedoch durch den Innenminister und später durch die Dienststrafkammer zurückgewiesen. Die Strafkammer verurteilte Schulz am 19. Oktober 1938 wegen Dienstvergehens zu einer Kürzung des Ruhegehalts um 20 Prozent für die Dauer von fünf Jahren [Dokument 9]. Schulz habe „bei der Befehlsgebung und Durchführung der taktischen polizeilichen Maßnahmen am 17. und 18. Juni 1930 seine Pflichten als Kommandeur der Schutzpolizei in Kassel grobfahrlässig verletzt und sich hierdurch der Achtung, des Ansehens und des Vertrauens, die sein Beruf erfordert, unwürdig gezeigt“.
Die umfangreiche Urteilsbegründung deutete gleichwohl darauf hin dass es dem Gericht nicht gelungen war, stichhaltig zu beweisen, dass Schulz „aus gehässiger Einstellung gegenüber der NSDAP bewußt der Partei schaden und sie dem Pöbel preisgeben wollte“. Dabei hatte die Urteilsschrift eine Raum greifende Betrachtung über die „Politische Einstellung des Beschuldigten“ angestellt, die insbesondere auf dessen Mitgliedschaft in der SPD zwischen 1922 und 1932 sowie im Reichsbanner zwischen 1924 und 1931 hinwies, und ihn als überzeugten Anhänger der Republik darstellte. Schulz legte Berufung gegen das Urteil ein, doch letzten Endes kam ihm der Zufall zur Hilfe: Ein „Gnadenerlass des Führers für Beamte“ vom 29. Oktober 1939 führte schließlich zur Einstellung des Verfahrens.
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