4. Die nationalsozialistische Verfolgungspolitik in Hessen bis 1938
Nach der Machtübertragung auf die Nationalsozialisten im Januar 1933 strebte die NS-Regierung an, ihr Ideal einer rassistisch begründeten Volksgemeinschaft zu verwirklichen. Aus den Juden und auch aus den Sinti un Roma machte die NS-Propaganda „Fremde“ oder „Untermenschen”, die es zu vertreiben, zu verjagen, letztlich zu vernichten galt.Anderes als gegen die Juden konnten die Nationalsozialisten gegenüber den Sinti und Roma zum Teil an die Gesetzgebung des Kaiserreichs und der Weimarer Republik und vor allem an die polizeiliche Praxis anknüpfen und übernehmen
Die Nürnberger Gesetze
Es entsprach der nationalsozialistischen Rassenpolitik, dass auch Sinti und Roma 1936 gemäß der Bestimmungen der sogenannten „Nürnberger Gesetze als "Artfremde" aus der deutschen Volksgemeinschaft ausgeschlossen wurden. In einem der maßgeblichen Kommentare zu den Gesetzen hieß es dann: „Artfremden Blutes sind in Europa regelmäßig nur Juden und Zigeuner.“ Damit war den Sinti und Roma wie den Juden durch das sogenannte Reichbürgergesetz unter anderem auch das Wahlrecht entzogen. Gleichzeitig mit der Degradierung der Sinti und Roma zu Bürgern zweiter Klasse wurden Ehen zwischen Mitgliedern der Minderheits- und Mehrheitsbevölkerung durch das Blutschutzgesetz verboten. Die Standesbeamten wurden angewiesen, Ehen zu unterbinden, wenn sie erfuhren, dass einer der zukünftigen Ehepartner nicht „reinblütiger Deutscher” war. Wenn ein Standesbeamter nur den Verdacht hegte, dass einer der Partner „zigeunerischer” Herkunft war, konnte er die Eheschließung verzögern. Dies war schon möglich, bevor die Sinti und Roma als Gruppe von den Rassenforschern erfasst und registriert waren. Das Mittel der Überprüfung war die Herbeibringung von Ehetauglichkeitszeugnissen, mit deren Hilfe dann die Ehebefähigung festgestellt oder im Einzelfall bestritten wurde. Als Ablehnungsgrund wurde seite 1935/36 die „nichtarische” Abstammung genannt.
Hetze in der Presse
Parallel zur kontinuierlichen Verschärfung der „Zigeuner”-politik wurden in der weitgehend zentral gelenkten Presse Artikel veröffentlicht, die erstens die „Kriminalität“ der Sinti und Roma beweisen sollten. Sie bedienten meistens traditionelle antiziganistische Ressentiments. Besonders im ersten Halbjahr 1936 lassen sich eine Reihe von Berichten über angebliche Straftaten von „Zigeunern” oder über Verbrechen, die einzelne begangen hatten oder derer sie nur beschuldigt wurden, nachweisen. Zum zweiten hatte die Artikel die Funktion, auf die „Fremdrassigkeit“ der Sinti und Roma hinzuweisen. Die Wahrheit spielte keine Rolle. Sinti und Roma sollten entsprechend der Bilder dargestellt werden. Richtigstellungen, die in der Weimarer Republik noch möglich gewesen wären, wurden jetzt untersagt.
Zentralisierung der Polizei
Die Zentralisierung der Polizei unter der Führung der SS im Reichsinnenministerium betraf auch die Sinti und Roma. Die gesetzliche Grundlage für zentralstaatliches Handeln gegen die Sinti und Roma, ein „Reichszigeunergesetz”, wurde allerdings nicht formuliert, obwohl schon im März 1936 der Oberregierungsrat Karl Zindel im Reichsinnenministerium „Gedanken über den Aufbau des Reichszigeunergesetzes” formuliert hatte. Der Vorschlag beinhaltete, die restlose Erfassung, die Identifizierung jedes erfassten Zigeuners und die Anlage laufender Personalakten, um diese Personengruppe, der ein „Wandertrieb” unterstellt wurde, lückenlos überwachen, gegebenenfalls abschieben zu können. Diese Gedankengänge waren zwar durch und durch rassistisch; sie lieferten das Instrumentarium zur späteren vollständigen Erfassung, die die Grundlage für die Deportationen war.
Durch verschiedene Erlasse im Juni 1936 wurden nachstehende Behörden auf die Vereinheitlichung der Zigeunerpolitik hingewiesen (Dokument Nr.3 )
Durch den Erlass vom 17. Juni 1936 (DOK) wurde Heinrich Himmler, Reichsführer der SS, zum Chef der deutschen Polizei im Reichsministerium des Innern ernannt. Mit Himmler stand nun ein Vertreter der rassistischen Ordnungspolitik und Bevölkerungspolitik an der Spitze aller Polizeiorganisationen. Der Übergang zu einer ausschließlich rassenpolitisch geprägten „Zigeunerpolitik” war damit vollzogen, der auf einer Beseitigung des „Lebens nach Zigeunerart”, das heißt auf die Ausschaltung eines als fremd angesehenen Verhaltens, und der Beseitigung der „Zigeuner”, der Sinti und Roma, hinauslief.
Zunächst hatten die Sinti und Roma 1937 und 1938 verschiedene, zum Teil noch unkoordinierte Aktionen von Polizei, Gestapo und Verwaltungsbehörden zu erleiden.
Die Aktion „ASR“
Hinter dem Kürzel „ASR“ verbarg sich die NS-Polizeiaktion „Arbeitsscheu Reich” bzw. „Arbeitszwang Reich”. Offiziell richteten sich die Fahndungen gegen sogenannte „Arbeitsscheue” im Sinne der nationalsozialistischen Ordnung. Das waren sowohl Menschen, die sich zum Beispiel weigerten in bestimmten Betrieben zu arbeiten als auch diejenigen, die zum Beispiel freiberuflich als Musiker, Korbmacher oder Händler tätig waren und bleiben wollten. In diese Verfolgungsaktion waren auch Sinti und Roma reichsweit einbezogen.
Die deutsche Kriminalpolizei ging in der Woche vom 13. bis zum 18. Juni 1938 gegen diese sogenannten „Asozialen” im Rahmen der „Vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ vor, wie es in der offiziellen Begründung hieß. Hierbei wurden mehrere Ziele der NS-Politik miteinander verknüpft: wie die Lösung des Problems des Arbeitskräftemangels, Verschärfung der Strategie gegen die sogenannten „Artfremden”, die Einschüchterung der Mehrheitsbevölkerung und die Befriedigung des Law- and Order-Gedankens.
Diese Aktion, die sich auch gegen Sinti und Roma richtete, war zwar eine durchaus rassistisch begründete Polizeiaktion, stand aber auch von ihrem Selbstverständnis noch in der Tradition der alten polizeilichen Praxis gegen Menschen, die man als „Zigeuner” betrachtete. Sie markiert einen weiteren Schritt in der Übergangsphase zur rein rassistischen Erfassungs-, Vertreibungs- und Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten nach 1938. Über 10.000 Männer, darunter eine nicht bekannte Zahl von Sinti und Roma, wurden festgenommen und in die Konzentrationslager Sachsenhausen, Buchenwald und Dachau verbracht. Manche verbleiben dort bis zur Befreiung 1945 – andere überlebten die Lagerhaft nicht.
Im Regierungspräsidium Kassel sollten 200 Personen festgenommen werden, und diese Vorgabe wurde von den entsprechenden lokalen Polizeibehörden auch erfüllt, wie die Listen zeigen. (DOK)
Der „Westabschub“
Parallel zu den Verfolgungsaktionen versuchten sich auch einzelne NS-Politiker durch Maßnahmen gegen Sinti und Roma zu profilieren. Der Regierungspräsident von Wiesbaden als Reichkommissar für die Westprovinzen veranlasste am 21. Juli 1938 die Abschiebung aller Sinti und Roma aus den Gebieten westlich des Rheins. Als Vorwand diente der alte Vorwurf der Spionage. Das Abschiebeziel war der „Osten“, das hieß auch der hessische Raum, Thüringen oder Berlin. Mit Lastwagen wurden einige Hunderte Sinti und Roma von Ort zu Ort verbracht, zunächst in Richtung Osten, dann von Berlin und Thüringen wieder zurück. Etwa 150 Sinti und Roma aus den westlichen Regionen Deutschlands mussten im Hersfelder Raum, in Fulda, aber auch in Frankfurt bleiben Dies war der Übergang von den sogenannten „Einzellösungen“ zu den zentral organisierten Deportationen, dessen einzelne Maßnahmen für Frankenberg nachvollziehen lassen. (DOK)
Lit.
Peter Sandner: Frankfurt. Auschwitz. Frankfurt 1998
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